"Fallstricke" im sozialgerichtlichen Verfahren

Hinweise des Ausschusses Sozialrecht der Bundesrechtsanwaltskammer:

 

Das sozialgerichtliche Verfahren hat eine große Ähnlichkeit mit dem verwaltungsgerichtlichen und finanzgerichtlichen Verfahren, die Verfahrensordnungen sind im Wesentlichen gleich ausgestaltet. Dennoch haben sich in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einige „Fallstricke“ entwickelt, die für die anwaltliche Tätigkeit von Bedeutung sind. Nachfolgend sollen vier Problemkreise näher betrachtet werden, nämlich die Themenkomplexe Beweisanträge, Anträge im laufenden Verfahren, Bescheidungsurteile und die Beantragung von Vertagungen.

 

1. Beweisanträge

Das sozialgerichtliche Verfahren ist dem Amtsermittlungsprinzip nach § 1031 SGG unterworfen. Das Gericht hat von Amts wegen – unabhängig von eventuellen Beweisanträgen bzw. Beweisantritten der Beteiligten – den streiterheblichen Sachverhalt von Amts wegen umfassend zu ermitteln; im Zivilprozess ist es grundsätzlich anders, dort gilt der Beibringungsgrundsatz. Auf Grundlage des fundamentalen Unterschieds zwischen Amtsermittlungsprinzip und Beibringungsgrundsatz wird vom BSG zwischen beiden differenziert. Nach Auffassung des BSG2 hat der Beweisantritt im Sinne von §§ 3713, 3734, 4025 f. ZPO i. V. m. § 2026 SGG im sozialgerichtlichen Verfahren auf Grund des Amtsermittlungsprinzips nur eine geringe prozessuale Bedeutung. Der Beweisantritt würde lediglich Hinweise und Anregungen zu Maßnahmen enthalten, die von Amts wegen einzuleiten seien, wie auch im Zivilprozess denkbar.

Anders verhält es sich jedoch bei einem förmlich ausformulierten Beweisantrag. Dann muss sich das Gericht mit diesem Beweisantrag ausführlich auseinandersetzen. Nach Auffassung des BSG7 hat nämlich ein Beweisantrag für das Gericht eine Warnfunktion. Damit soll dem Gericht deutlich gemacht werden, dass nach Auffassung der antragstellenden Partei der Sachverhalt noch nicht von Amts wegen allumfassend ermittelt wurde. Daher ist im Zweifel noch in der mündlichen Verhandlung ein förmlicher Beweisantrag zu erstellen, damit das Gericht verpflichtet wird, sich mit dem Beweisthema auseinanderzusetzen. (Es kommt also darauf an, den Unterschied zwischen Beweisantritt („Beweis: Sachverständigengutachten“) und Beweisantrag („Zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger erkrankt und deswegen nicht fähig war, seiner Tätigkeit nachzugehen, wird beantragt, ein Sachverständigengutachten einzuholen.“ zu beachten.)

Diese Problematik spielt im Wesentlichen im Zusammenhang mit der Nichtzulassungsbeschwerde zum BSG bzw. bei nicht berufungsfähigen Urteilen des SG bei der Nichtzulassungsbeschwerde zum LSG im Hinblick auf die Frage des Vorliegens eines Verfahrensfehlers eine Rolle. Wenn das Gericht Beweisantritte übergeht, liegt nach der Rechtsprechung kein Verfahrensfehler vor. Anders ist es jedoch, wenn das Gericht einem förmlichen Beweisantrag ohne ausreichende Begründung nicht folgt, dann liegt ein Verfahrensfehler vor.

 

2. Anträge im laufenden Verfahren

Nach der Rechtsprechung des BSG8 müssen schriftsätzlich gestellte Anträge in der mündlichen Verhandlung wiederholt werden. Geschieht dieses nicht, gelten die Anträge als zurückgenommen. Dann ist die Rüge der Verletzung der Sachaufklärungspflicht nach § 1039 SGG nicht mehr möglich. Auch in diesem Zusammenhang soll eine Warnfunktion für das Gericht eingreifen, dass der anwaltlich vertretene Kläger mit dem Wiederholen der schriftsätzlich gestellten Anträge in der mündlichen Verhandlung das Gericht darauf hinweist, dass der Sachverhalt noch nicht vollständig ausermittelt ist.

Das Aufrechterhalten von Anträgen spielt auch in den Fällen des Vorliegens von Sachverständigengutachten eine besondere Rolle. Wenn man die persönliche Anhörung des Sachverständigen wünscht, dann muss die Anhörung des Sachverständigen in der Instanz durchgeführt werden, in dem das Sachverständigengutachten erstellt wurde. Eine Befragung des Sachverständigen aus der ersten Instanz innerhalb des Berufungsverfahrens ist grundsätzlich unzulässig. Das gilt jedoch dann nicht, wenn der Antrag auf Anhörung des Sachverständigen noch in der letzten mündlichen Verhandlung gestellt wurde.10 Das BSG leitet im Übrigen diesen Anhörungsanspruch aus § 116 Abs. 2 SGG i. V. m § 39711 , 40212 , 41113 ZPO sowie aus § 6214 SGG ab. Wird das Fragerecht nicht hinreichend eingeräumt, so ist ein Verfahrensfehler festzustellen.

 

3. Bescheidungsurteil

Bei der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gibt es hinreichend Fälle, in denen das Gericht nicht „durchentscheiden“ kann, sondern die Verwaltung verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts den Anspruch des Klägers neu zu bescheiden. Dieses Problem stellt sich regelhaft in den Fällen, in denen entweder der Behörde ein Ermessen eingeräumt wird oder die Beteiligten über einen unbestimmten Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum streiten. In beiden Fällen folgt ein neues Verwaltungsverfahren, in dem die Behörde eine erneute Entscheidung treffen muss.

Das Bescheidungsurteil hat jedoch erhebliche haftungsrechtliche Risiken. Das BSG15 geht davon aus, dass durch das Bescheidungsurteil abschließend entschieden wird, welche Gesichtspunkte für die Neubescheidung von Relevanz sind oder nicht. Auch wenn das Bescheidungsurteil sich mit einzelnen Argumenten nicht auseinandergesetzt hat, so zumindest die Auffassung des BSG, wurden diese Ausführungen des Klägers zur Kenntnis genommen. Das Gericht hielt sie jedoch nicht für relevant und hat sie nicht gewürdigt.

Dem Bescheidungsurteil kommt deswegen besondere Bedeutung zu, weil diesem in einem Folgeverfahren, in dem die Verwaltung das Bescheidungsurteil umgesetzt hatte, Bindungswirkung zugesprochen wird. Damit ist es im zweiten Prozess nicht mehr möglich, Argumente aus dem ersten Verfahren nochmals geltend zu machen.16

Für die Praxis bedeutet dieser Sachverhalt, dass trotz Obsiegens geprüft werden muss, ob nicht gegen diese Entscheidung dennoch Berufung eingelegt werden soll. Insoweit liegt nämlich die erforderliche Beschwer in der Begründung des Urteils. Verfahrensrechtlich ist dann zu beantragen, dass unter Abänderung des Urteils des Vordergerichts unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats die Verwaltung verpflichtet werden sollte, neu zu bescheiden.

 

4. Vertagung beantragen

Besondere Aufmerksamkeit ist geboten, wenn in einer mündlichen Verhandlung Sachverhalte oder von Amts wegen beigezogene Informationen erörtert werden, die bisher schriftsätzlich nicht behandelt worden sind. So kann es zum Beispiel bei medizinischen Sachverhalten passieren, dass das Gericht auf wissenschaftliche Erkenntnisse (Quelle: Internet) hinweist oder Akten beigezogen hat, deren Inhalt bisher nichts zur Kenntnis genommen werden konnte. Gem. § 12817 Abs. 2 SGG darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten haben äußern können. Das ist Ausdruck des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs gem. § 6218 SGG i. V. m. Art. 10319 Abs. 2 GG, der vor allem gerade dann zu wahren ist, wenn der Rechtsstreit durch Gesichtspunkte, die bisher nicht erörtert worden sind, eine unerwartete Wendung nimmt.20 Die Beteiligten sollen vor Überraschungsentscheidungen geschützt sein.

Die Hinweispflichten des Gerichts gem. § 11221 Abs. 2 Satz 2 SGG, die in allen Instanzen gelten, beziehen sich auf Tatsachen, die den Beteiligten bisher unbekannt waren und auf rechtliche Gesichtspunkte, die bisher nicht zur Sprache gekommen sind. Hingegen ist das Gericht nicht allgemein verpflichtet, alle Gesichtspunkte, von denen es sich bei seiner Entscheidung leiten lassen will, zuvor mit den Beteiligten zu erörtern22. Ein umfassendes Rechtsgespräch ist wünschenswert, kann aber nicht erzwungen werden. Auch ist zu beachten, dass über § 20223 SGG § 13924 ZPO vollumfänglich zur Anwendung kommt.

Das bedeutet, dass immer dann, wenn Umstände zur Sprache kommen, die bisher weder schriftlich noch mündlich angesprochen wurden, geprüft werden muss, ob man sich hierzu einlassen kann, und zwar in dem Maße, wie es zur Wahrung der Interessen des Mandanten geboten ist. Anderenfalls muss man Vertagung beantragen, also die Verlegung des Termins zur Wahrung des rechtlichen Gehörs beantragen und den Vertagungsantrag auch protokollieren lassen.

Verletzungen des rechtlichen Gehörs kann man mit der Anhörungsrüge gem. § 178a25 SGG angreifen. Das ist jedoch alles andere als ein Allheilmittel. Die Anhörungsrüge ist nur zulässig gegen Endentscheidungen. Das sind solche, die ein Verfahren im letzten Rechtszug abschließen. Sie ist kein Rechtsbehelf, sondern gibt Gelegenheit zur richterlichen Selbstkorrektur. Wird sie für begründet erachtet, hilft das Gericht ihr ab, indem es das Verfahren fortführt, § 178a Abs. 5 Satz 1 SGG. Das setzt jedoch voraus, dass derjenige, der die Rüge erhebt, zuvor seine prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft, insbesondere einen Vertagungsantrag gestellt hat, wenn erkennbar war, dass die Entscheidung auf Umstände gestützt werden sollte, zu denen bisher kein rechtliches Gehör gewährt worden war.

Kammerton 12-2020