Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreis 2020 für die Geschwister Timtik

Von Bilinç Isparta, Vizepräsident und Menschenrechtsbeauftragter der RAK Berlin

Das Institut für Menschenrechte der Europäischen Rechtsanwälte hat in ihrer Jurysitzung am 26.09.2020 den nach dem Gründer der Menschenrechtsliga benannten Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreis an die Geschwister Ebru und Barkin Timtik verliehen. Der weltweit einzige Menschenrechtspreis, der von Rechtsanwält*innen an Rechtsanwält*innen vergeben wird, honoriert das besondere Engagement und den Einsatz von Rechtsanwält*innen für die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundprinzipien, wie den Fair-Trial-Grundsatz, die Einhaltung und Achtung der Menschenrechte sowie gegen Ausgrenzung und Rassismus und wurde erstmals 1984 an den damals inhaftierten Südafrikaner Nelson Mandela verliehen.

Der Jury gehören neben der Berliner Rechtsanwaltskammer eine Vielzahl weiterer Europäischer Rechtsanwaltskammern, unter anderem die Kammern aus Paris, Brüssel, Amsterdam, Luxemburg, Genf, Bordeaux sowie weitere nationale und internationale Rechtsanwaltsorganisationen, wie die UIA (International Association of Lawyers) und Lawyers for Lawyers aus den Niederlanden an.

Die Preisträger:

Ebru Timtik, die mit Ihrer Forderung nach einem fairen Gerichtsverfahren im Januar 2020 in Hungerstreik trat, erlag am 27.08.2020 den Folgen des Todesfastens. Sie erhält den Preis postum gemeinsam mit ihrer weiterhin inhaftierten Schwester Barkin Timtik.

Die Geschwister Timtik waren Mitglied des Vorstandes der Progressiven Anwaltsorganisation  CHD und zwei der 16 Anwält*Innen des HHB – der Rechtsanwaltskanzlei des Volkes. Sie vertraten unter anderem mehrere Lehrkräfte, die wie über 100.000 weitere Staatsbedienstete unmittelbar nach dem Putschversuch 2016 per präsidialem Dekret (sog. KHK – Karar hükmünde Karaname – Dekret mit Gesetzeskraft) frist- und allzu oft auch anlasslos entlassen wurden, unter anderem Nuriye Gülmen und Semih Özakca, die gegen Ihre Entlassung protestierten und sich im Hungerstreik befanden. Die Geschwister Timtik wurden zwei Tage vor der anberaumten Gerichtsverhandlung am 27.09.2017 wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation (DHKP-C) verhaftet. Die Festnahme steht im Zusammenhang einer Festnahmewelle von 14 Kolleg*Innen im Oktober und November, die ebenfalls Mitglieder des CHD und teils Anwälte des HHB waren. Unter Ihnen befand sich auch der Präsident des CHD und Hans-Litten-Preisträger 2014 Selcuk Kozaagacli.

Der als CHD-Verfahren bekannt gewordene Prozess erweckte international große Aufmerksamkeit und wurde als Angriff auf die Anwaltschaft verstanden. Grundprinzipien des Anwaltsberufs und der Rechtsstaatlichkeit, die untersagte Gleichstellung zwischen Mandant und Anwalt, die freie und unreglementierte Berufsausübung wie auch das vor staatlichen Zugriffen geschützte Verhältnis zum Mandanten wurden in diesem Verfahren systematisch missachtet. Im Mittelpunkt des Verfahrens stand das Berufsbild und die Tätigkeit eines Rechtsanwalts. Allein die Vertretung von Mandanten, die ihrerseits unter dem Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation oder dessen Unterstützung standen, genügte – oder wurde besser gesagt bewusst zum Anlass genommen – um selbst zum Ziel der Vorwürfe zu werden.

In einem Verfahren, bei dem der Kontakt des Verteidigers zu seinem inhaftierten Mandanten, dessen Gesprächsnotizen und der berufliche Austausch unter den Kolleg*Innen im Rahmen der gemeinsamen Verteidigung als Beweis für die Behauptung einer Mitgliedschaft herangezogen wird, kann wohl nicht als ein Prozess bewertet werden, der den Grundsätzen eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens entspricht.  Das Verfahren war geprägt und getragen vom politischen Willen und nicht von normativen, dem Recht verschriebenen Prinzipien. Der mehr als Farce denn als Gerichtsverfahren zu bezeichnende (Schau)Prozess zeigte dann auch unverhohlen die Bereitschaft oder den Zwang der Justiz, sich dem politischen Willen bedingungslos unterzuordnen. Dass der Vorsitzende Richter seine Abberufung vom Verfahren und seine Zwangsversetzung auch nicht durch die umgehende (erneute) Haftanordnung verhindern konnte, nachdem er die Freilassung aller Inhaftierten Kolleg*Innen tags zuvor –mit der Begründung, dass die Beweise den Kernbereich der anwaltlichen Berufsausübung berührten und daher nicht als Beleg für den erhobenen Vorwurf herangezogen werden – anordnete, dürfte den Unterwerfungsprozess der Justiz unter den politischen Willen, zumindest die (teils widerwillige) Bereitschaft dazu, nicht unerheblich gefördert haben.

Ich habe an der Verhandlung des Verfahrens vor der 37. Großen Strafkammer in Istanbul als Prozessbeobachter gemeinsam mit einer Vielzahl von internationalen Anwaltsorganisationen begleitet und hierzu ausführlich im Kammerton berichtet (Ausgabe 3/2019). Im März 2019 hat die 37. Große Strafkammer durch den Vorsitzenden Richter Akin Gürlek, einem Richter der, so scheint es, bei politischen Prozessen bevorzugt zum Einsatz kommt, alle die Kolleg*Innen wie auch die Preisträgerin in Abwesenheit der Angeklagten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu Haftstrafen zwischen 2 Jahren und 15 Tagen und 18 Jahren und 9 Monaten verurteilt.

Barkin Timtik erhielt die höchste der ausgeurteilten Strafen, Ebru Timtik wurde zu 13 ½ Jahren Haft verurteilt.

Ebru Timtik setzte sich auch aus der Haft heraus gegen das in aller Hinsicht rechtsstaatswidrige Verfahren zu Wehr und bemängelte das Fehlen aller anerkannten Mindeststandards für ein Strafverfahren und die Missachtung ihrer unabhängigen Berufsausübung. Um ihrem einzigen Wunsch nach einem fairen und unparteiischen Verfahren Nachdruck zu verleihen begab sich Ebru Timtik gemeinsam mit ihrem inhaftierten Kollegen Aytac Ünsal im Januar 2020 in Hungerstreik, der später in Todesfasten mündete. Die am 27.08.2020 nur noch ca. 30 Kilo wiegende Kollegin erlag den Folgen des Hungerstreiks. Obgleich forensische Gutachten die fehlende Haftfähigkeit attestierten, lehnte das Gericht Anträge auf Haftentlassung noch kurz zuvor ab.  Für ihren bis zuletzt ungebrochenen Willen und Ihren Einsatz für die Grundprinzipien von Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz, ihren Einsatz für ihre oft politisch verfolgten Mandanten erhielten Ebru und ihre Schwester Barkin Timtik, die den Kampf fortsetzt, den Ludovic-Trarieux- Menschenrechtspreis 2020.

Im Oktober 2019 hatte ich anlässlich einer dreitägigen Fact-Finding-Mission unter Beteiligung weiterer Rechtsanwaltskammern und Anwaltsorganisationen die Gelegenheit, mehrere Inhaftierte des CHD-Verfahrens in der Haftanstalt Silivri, ca. 80 Kilometer außerhalb von Istanbul, zu besuchen. Unter Ihnen befanden sich neben dem Präsidenten des CHD auch die beiden Preisträger Ebru und Barkin Timtik. Ich habe zwei Frauen kennengelernt, deren Einsatz gegen Machtmissbrauch, Diskriminierung und ihr Engagement für eine ebenso unabhängige Justiz im Allgemeinen wie auch die die Menschenrechte achtende Staatsgewalt im Besonderen einer Quelle unermüdlicher Kraft zu entspringen schien und der Wille und der Glaube dies für sich, die Menschen und ihre Heimat zu erreichen auch in Haft ungebrochen war. Zum Bericht der Fact-Finding mission

Barkin Timtik
Ebru Timtik
Kammerton 12-2020