„Anwaltsverfahren sind geeignet für Videoverfahren“

Rechtsanwältin Ulrike Silbermann

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz prüft derzeit einen gesetzgeberischen Bedarf für die Ausweitung der Möglichkeiten, Videoverhandlungen in Zivilsachen – auch unabhängig von einer Pandemie – durchführen zu können. Das BMJV hat im Juni 2021 der Bundesrechtsanwaltskammer einen ausführlichen Fragenkatalog vorgelegt, den die BRAK an die zuständigen Fachausschüsse und an die regionalen Rechtsanwaltskammern weitergeleitet hat. Auf der Grundlage der Antworten der Ausschüsse und der Rechtsanwaltskammern hat die Bundesrechtsanwaltskammer im August 2021 ihre ausführliche Antwort verschickt.

Für die RAK Berlin hat der Ausschuss für Digitalisierung und Innovation, dem sechs Vorstandsmitglieder angehören, auf den Fragenkatalog geantwortet. Rechtsanwältin Ulrike Silbermann gehört diesem Ausschuss an. An sie haben wir Fragen gerichtet, auch zu einem aktuellen Interview zu den Videoverhandlungen im Berliner Anwaltsblatt, Juli-August Heft 2021.

 

Kammerton: Dr. Anja Teschner, Vizepräsidentin des Landgerichts Berlin, hat im Juli-August Heft des Berliner Anwaltsblatts berichtet, dass die Zahl der Gerichtsverhandlungen am Landgericht im Wege der Bild-Ton-Übertragungen nach § 128a ZPO inzwischen bei mehr als 100 im Monat liege. Dagegen haben Sie und die BRAK mitgeteilt, dass die Richterschaft insgesamt zurückhaltend sei. Warum?

RAin Silbermann: Frau Dr. Anja Teschner betrachtet, was nachvollziehbar ist, den Umgang mit den Videoverhandlungen nur für ein Gericht, nämlich das Landgericht. Es ist sehr erfreulich, dass die Zahlen steigen. Wir haben innerhalb der Mitglieder des von der RAK Berlin gebildeten Ausschusses für Digitales festgestellt, dass für die Vielzahl der von uns bearbeiteten Verfahren bei verschiedensten Zivilgerichten nicht festzustellen ist, dass die Gerichte vermehrt zu Videoverhandlungen neigen. Dies mag an der unterschiedlichen technischen Ausstattung der Gerichte oder auch an den Gewohnheiten der Richter*innen liegen.

Wir begrüßen es, dass ein Trend im Landgericht Berlin vorherrscht, von den Möglichkeiten des § 128 a ZPO Gebrauch zu machen. Der anwaltliche Erfahrungsaustausch hat jedoch ergeben, dass in einer Reihe von Verfahren, in denen Anträge nach § 128 a ZPO gestellt wurden, diese wegen technischer Schwierigkeiten abgelehnt worden sind.

Dr. Teschner hält die Bild-Ton-Übertragung besonders bei der Erörterung von Rechtsproblemen, bei der Klärung einfacher Tatsachenfragen und bei der Vernehmung von Zeugen, Parteien und Sachverständigen für geeignet. Die BRAK befürwortet die Videoverfahren u.a. für das einstweilige Verfügungsverfahren und für einvernehmliche Scheidungen. Sind diese Vorschläge zu weitgehend?

Wir stimmen Frau Dr. Teschner zu, dass Videoverhandlungen, in denen Rechtsansichten und einfache Tatsachenfragen erörtert werden, zu einer Beschleunigung der Verfahren führen können, was für alle Beteiligten sinnvoll ist. Einig sind wir uns aber nicht darüber, ob die Vernehmung von Parteien, Sachverständigen und Zeug*innen auch in einer Videoverhandlung durchgeführt werden soll. Da es bei Zeug*innen in jedem Fall darauf ankommt, ob die Aussagen glaubhaft und der Zeug*in glaubwürdig ist, kommt es unseres Erachtens auf den Gesamteindruck von der vernommenen Person an. Diesen Gesamteindruck kann sich das Gericht nur in einer Präsenzverhandlung verschaffen, so dass wir bei Beweisaufnahmen in jedem Fall eine mündliche Verhandlung in Präsenz der Videoverhandlung vorziehen würden. Dies gilt auch für die Parteivernahme. Die Befragung von Sachverständigen kann unseres Erachtens auch im Rahmen einer Videoverhandlung erfolgen. Diese sind vom Gericht wegen ihrer Sachkunde eingesetzt und haben kein eigenes Interesse am Ausgang des Verfahrens, so dass es in diesem Fall nicht auf den Gesamteindruck der Sachverständigen ankommt und das Gutachten in der Regel vorab schriftlich vorliegt.

In der Umfrage der BRAK wurde gefragt, welche Verfahren wir für Videoverhandlungen für geeignet erachten. Wir sind der Meinung, dass Anwaltsverfahren grundsätzlich geeignet für Videoverhandlungen sind. Anwaltsverfahren sind neben dem landgerichtlichen Verfahren auch das Scheidungsverfahren. Es bietet sich daher an, in einvernehmlichen Scheidungsverfahren – ohne streitige Folgesachen – per Videoverfahren zu verhandeln, wenn die Identität der Beteiligten sichergestellt werden kann.  Einstweilige Verfügungsverfahren sind wegen der hohen Eilbedürftigkeit für Videoverhandlung sehr geeignet.

Sie haben in der Antwort Ihres Ausschusses für Digitalisierung und Innovation auf die Umfrage der BRAK im Juni 2021 darauf hingewiesen, dass die Abstimmung der Anwaltschaft mit der Mandantschaft während der Videoverhandlung dann schwierig ist, wenn diese von verschiedenen Geräten aus teilnehmen. Würden hierfür „Breakout-Räume“ für Gespräche mit der Mandantschaft helfen?

Unsere Mandant*innen sind allein schon aufgrund ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten nicht immer in der Lage, an Videoverhandlungen teilzunehmen. Ich gehe davon aus, dass die Fähigkeit mit digitaler Technik umzugehen, in den nächsten Jahren aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung der Gesellschaft steigt. Trotzdem halte ich es für schwierig, Gespräche mit den Parteien in „Break- Out“ Räumen zu führen. Das Gericht stellt in 128 a ZPO- Verfahren das Tool für die Videoverhandlungen zur Verfügung. Dies würde auch für die „Breakout- Räume“ gelten. Uns ist bei dem Gedanken an solche virtuellen Räume nicht ganz wohl, weil wir nicht übersehen können, wer versehentlich oder absichtlich in solche Räume Einblick haben könnte.

Ein geschütztes Gespräch mit der/dem Mandant*in ist in einem virtuellen Raum unseres Erachtens nicht möglich. Für die Zukunft sollte aber über solche oder andere Möglichkeiten der Kommunikation der Partei mit der/dem Rechtsanwalt*in in Videoverhandlungen nachgedacht werden. Gerade bei Vergleichsabschlüssen ist eine Austauschmöglichkeit der Verfahrensbeteiligten notwendig.

Einige Erweiterungsvorschläge zu § 128 a ZPO (z.B. die „Kann“-Regelungen durch „Soll-Regelungen“ zu ersetzen, auch die Videoteilnahme durch die Richterinnen und Richter zuzulassen oder aber eine digitale Gerichtsöffentlichkeit zu ermöglichen) haben Sie abgelehnt. Ist dieses Misstrauen gerechtfertigt?

Wir sind der Meinung, dass vor Änderung einer „Kann-“ in eine „Sollvorschrift“ erst einmal hinreichende Erfahrungswerte vorliegen sollten. Der Schritt zur Sollvorschrift setzt eine funktionierende Digitallandschaft in Deutschland voraus. Davon sind wir Stand heute noch weit entfernt. Die Bild- und Tonqualität bei Videoverhandlungen ist je nach Standort der Kanzlei oder der Partei qualitativ unterschiedlich, so dass eine Verpflichtung zur Videoverhandlung den momentanen Gegebenheiten zuwiderläuft. Wir sind dafür, dass Richter*innen Videoverhandlungen anregen sollten, wenn dies von diesen für möglich und sinnvoll erachtet wird.

Sicherlich ist es ein Problem, die digitale Gerichtsöffentlichkeit herzustellen. Wir haben aber Probleme damit, Gerichtsverhandlungen zu streamen, weil dies eine vielfältige Missbrauchsmöglichkeit durch unbekannte Dritte eröffnet. Die Verhandlungen können unberechtigterweise aufgezeichnet und verbreitet werden und Persönlichkeitsrechte verletzen. Schadensersatzforderungen wegen der unberechtigten Verbreitung sind nur schwer oder gar nicht durchzusetzen. Der Schaden für die Betroffenen kann unabsehbare Folgen für diese haben. Wir haben uns deswegen gegen ein „Streaming“ ausgesprochen. Wir sehen aber das Problem, die Öffentlichkeit herzustellen. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, nur authentifizierten Personen Zugang zu gewähren, um Missbrauch einzuschränken.

Wäre es sinnvoll, § 128 a ZPO dahingehend zu ändern, dass bei übereinstimmendem Antrag der Parteien eine Videoverhandlung durchzuführen ist und die Gerichte nur aus wichtigem Grund davon absehen dürfen?

Ich halte es für eine gute Idee, Videoverhandlungen durchzuführen, wenn die Verfahrensbeteiligten dies durch den übereinstimmenden Antrag gefordert haben. Eine Verpflichtung der Gerichte für diese Fälle zu fordern, unterstütze ich uneingeschränkt. Da die digitalen Fähigkeiten und Kenntnisse der Richter*innen unterschiedlich sind, frage ich mich zugleich, wem es nützt, Richter*innen, die nicht über diese digitalen Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen, zu zwingen, eine Videoverhandlung durchzuführen. Es sollte daher auch jetzt in der „Probezeit“ für § 128 a ZPO -Verfahren mit Augenmaß vorgegangen werden. Weder die Anwaltschaft noch die Richterschaft sollten zu einem Verfahren gedrängt werden, welches aus verschiedenen Gründen nicht erprobt bzw. technisch oder personenbedingt nicht umsetzbar ist.

 

Kammerton 10-2021