Welche Folgen hat Legal Tech für die Anwaltschaft?

Rechtsanwalt Markus Hartung hat auf der Klausurtagung des Kammervorstandes am 29.10.2021 referiert über das Thema „Legal Tech – tatsächliche Entwicklung auf dem Rechtsberatungsmarkt und Rolle der Rechtsanwaltskammern“. Zu diesem Thema hat der Kammerton im Anschluss Fragen an den Referenten gerichtet.

RA Hartung ist Geschäftsführender Gesellschafter der Chevalier Rechtsanwaltsgesellschaft mbH und Inhaber des Beratungsunternehmens „The Law Firm Companion“ für die Anwaltschaft und für nichtanwaltliche Rechtsdienstleister. Er ist als Autor und Referent zu aktuellen berufsrechtlichen Fragen bekannt und seit 2006 Mitglied im Berufsrechtsausschuss des DAV (von 2011 bis 2019 als Vorsitzender). Seit 1989 ist er anwaltlich tätig, zunächst als Anwalt in Kreuzberg, später als Managing Partner einer internationalen Kanzlei. Von 2010 bis 2019 war er Gründungsdirektor des Bucerius Center on the Legal Profession an der Bucerius Law School in Hamburg.

Rechtsanwalt Markus Hartung     Foto: Frank Eidel

 

Kammerton:  Legal Tech spielt eine immer größere Rolle auf dem Rechtsberatungsmarkt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung?

RA Hartung:  Spätestens in der Pandemie hat die Anwaltschaft verstanden, dass die Digitalisierung ein Segen ist und es auch in schwierigen Zeiten ermöglicht, für Mandanten da zu sein. Das hilft auch dem Verständnis von und der Offenheit für Legal Tech: Denn wenn man das mal ohne Hype betrachtet, dann merkt man, dass Legal Tech erst mal nur Software ist, die es einem ermöglicht, Dinge anders und oft besser zu erledigen. Ich glaube, das wird mehr und mehr zum Alltag, und in ein paar Jahren werden wir nicht mehr verstehen, warum wir uns darüber so aufgeregt haben.

 

Wie können Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte auf Legal Tech am besten reagieren?

Vor allem sollten sie keine Sorge haben, da käme etwas Schreckliches auf sie zu. In den allermeisten Fällen hilft Software, die eigene Arbeit zu verbessern oder sich die Arbeit zu erleichtern, und: man macht es aktuellen und künftigen Mandanten viel leichter, mit einem in Kontakt zu treten und in Verbindung zu bleiben. Mandanten schätzen es sehr, wenn sie via Smartphone mit ihrer Anwältin oder ihrem Anwalt in Kontakt sein können, dass sie rasch und formlos informiert werden oder sogar in ihre elektronische Akte blicken können. Auch ein Videogespräch zwischen Anwalt und Mandant reicht oft aus – natürlich nicht immer, aber öfter als man denkt. Die Diskussion dreht sich viel zu oft um die mit Verlaub doofe Frage, ob und wann Anwälte durch Software ersetzt werden, und viel zu selten darum, was durch Technik alles möglich wird.

Allerdings darf man nicht übersehen, dass in bestimmten Fällen Inkassodienstleister „bessere“ Angebote unterbreiten können. Es gibt Rechtsbereiche oder auch Verbraucheransprüche, in denen Anwälte kaum mit den Angeboten von Schlichtungsstellen oder Inkassodienstleister konkurrieren können. Aber das sollte uns nicht besorgen, denn es gibt immer noch viel mehr Bereiche, in denen die Anwaltschaft unverzichtbar ist und es auch bleiben wird.

 

Viele Rechtssuchende schätzen den einfachen Zugang zum Recht z.B. über die Inkassofirmen. Verzichten sie dabei nicht unnötigerweise darauf, dass sie bei anwaltlicher Beratung im Erfolgsfall den erstrittenen Betrag vollständig erhalten und dass sie von der anwaltlichen Unabhängigkeit und der Verschwiegenheit profitieren können?

Im Idealfall ist das richtig. Aber wann ist die Welt schon ideal? Vermutlich denken viele Menschen, dass man bei Gericht ohnehin nicht alles bekommt. Sehr viele Menschen würden kleine(re) Ansprüche auch nicht durchsetzen, weil das Kostenrisiko zu hoch ist. Wenn man dann bei einem Inkassoanbieter z.B. 70% bekommt, dann ist das doch viel besser als nichts, gerade wenn die Alternative darin besteht, auf den Anspruch zu verzichten, also Null zu bekommen. Verbraucher rechnen oft von Null an aufwärts, nicht von 100 an abwärts. Das muss man verstehen, sonst kann man keine guten Angebote unterbreiten.

Hinzu kommt, dass die Attraktivität der Inkassofirmen viele Gründe hat: sie sind schnell, bequem und jederzeit erreichbar, es ist risiko- und kostenfrei, man kann den Konflikt komplett delegieren und braucht sich um nichts zu kümmern, und diese Unternehmen sind hochspezialisiert und können aus den tausenden von Fällen, die sie bereits bearbeitet haben, zuverlässiger sagen, ob ein Anspruch erfolgversprechend ist oder nicht. In den meisten dieser Aspekte machen viele Anwälte keine gute Figur. Inkassofirmen gelten auch bei der Durchsetzung als besonders unnachgiebig, weil es eben zu ihrem Geschäftsmodell gehört, Fälle ohne Vergleich durchzusetzen. Gerade in den Fällen, wo es nicht um den Ausgleich erlittener Schäden geht, ist das sehr attraktiv.

 

Hilft das Gesetz zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt („Gesetz zum Legal Tech Inkasso“), das seit 01.10.2021 in Kraft ist, der Anwaltschaft?

Ja und nein. Mehr ja als nein. Dass die Anwaltschaft jetzt besser mit Inkassounternehmen konkurrieren kann, ist gut. Dass Erfolgshonorare liberalisiert worden sind, ist auch gut. Dass Inkassounternehmer aber nach wie vor mehr dürfen als Anwälte, auch wenn beide Berufsgruppen dasselbe tun, ist schwer verständlich, aber gegen eine weitergehende Liberalisierung hat sich insbesondere die BRAK mit Händen und Füßen gewehrt. Das ist schade. Andererseits unterliegen Inkassounternehmer jetzt strengeren Regeln, was ihre Preisgestaltung angeht, und auch weiterreichenden Informationspflichten, so dass Rechtsuchende beurteilen können, womit ihnen besser gedient ist: Anwalt oder Inkasso. Ich glaube, dass das für den Wettbewerb zwischen Anwälten und Inkassodienstleistern gut ist.

 

Wird der Umfang des anwaltlichen Marktes in Zukunft bleiben?

Meines Erachtens wird der Umfang des Marktes sogar wachsen, und zwar sowohl im wirtschaftsberatenden wie auch im Verbraucherbereich. Das Besondere ist ja, dass gerade die Legal Tech-Inkassounternehmen für einen Anstieg der Fälle gesorgt haben, indem viele Menschen erst dadurch realisiert haben, dass sie einen Anspruch haben, den sie risikofrei durchsetzen können. Die Durchsetzung dieser Ansprüche geht aber nur mit Hilfe von Anwälten. Soweit die gute Nachricht. Die andere Nachricht ist: Von diesem Zuwachs an Fällen werden insbesondere die spezialisierten und gut organisierten Kanzleien profitieren, die sich (und auch ihre Mandanten) permanent fragen, ob das, was sie anbieten, auch das ist, was Mandanten erwarten.

 

Welche Bedeutung hat diese Entwicklung für die Ausbildung der Juristinnen und Juristen?

Die Juristenausbildung muss reformiert werden, schon lange. Der Fokus liegt viel zu sehr auf einer kaum noch zu bewältigenden Menge an fachlichem Wissen, also Jura pur. Alles was mit Unternehmertum zu tun hat, fehlt, und alles, was mit der digitalen Transformation der Gesellschaft und mit den sich verändernden Anforderungen an Juristen zu tun hat, fehlt ebenso. Wir lernen Jura wie vor über 100 Jahren und werden für einen Beruf vorbereitet, den es nicht gibt – denn auch die „Befähigung zum Richteramt“ nach dem DRiG befähigt Sie ja noch lange nicht, eine gute Richterin oder ein guter Richter zu sein. Es ist eins der letzten Weltwunder, dass diese Erkenntnis auch mindestens 100 Jahre alt ist, sich aber trotzdem kaum etwas ändert.

Allerdings: Die Zahl der juristischen Berufe, für die man keine zwei Staatsexamen braucht, steigt, und die Studierendenzahl in juristischen Studiengängen an Fachhochschulen steigt ebenfalls. Die Zahl derjenigen, die sich auf den mühsamen Weg zum Volljuristen machen, stagniert. Gleichzeitig steht die größte Pensionierungswelle in der Justiz der letzten Jahrzehnte vor uns. Da kommt etwas ins Rutschen, und man würde sich sehr wünschen, dass die Rechtspolitik anfängt, dieses Problem zu erkennen, die Ursachen zu verstehen und dann anzugehen.

 

Wie sollten die Rechtsanwaltskammern auf die größere Bedeutung von Legal Tech reagieren?

Die Kammern haben zunächst mal Aufsichtspflichten und müssen dem nachkommen, auch wenn sie sich damit nicht immer beliebt machen. Es gibt eine Vielzahl halbseidener und fragwürdiger Anbieter von „Rechts“dienstleistungen, um die die Kammern sich kümmern müssen, und man muss sagen: Gut, dass sie das auch tun.

Aber die Kammern sollten ihre Kammermitglieder im Prozess der Digitalisierung auch unterstützen. Es gibt hier kein Patentrezept! Aber m.E. sollten die Kammern ein Forum sein, an das die örtliche Anwaltschaft sich mit ihren Legal Tech-Sorgen wenden kann – und idealerweise würden sich die örtlichen Kammern und die örtlichen Anwaltsvereine unterhaken, um gemeinsam Angebote zu unterbreiten. Unser Beruf befindet sich schon sehr im Umbruch, und es gibt Kolleg:innen, die da besonders gut mit klarkommen, und andere, die eher hadern. Wir könnten viel voneinander lernen, und der Ort, wo das geschehen kann, sind eben die Kammern und die Anwaltsvereine.

 

Kammerton 12-2021