Fortsetzung der Untersuchungshaft - nach mehr als 5 Jahren und ohne Begründung

Von Vizepräsident und Menschenrechtsbeauftragter Bilinç Isparta

 

Die internationale Gemeinschaft konzentriert sich auf die fehlende Rechtsstaatlichkeit im Verfahren gegen Osman Kavala. Fast unbemerkt davon zeigt die türkische Justiz in dem Verfahren gegen Rechtsanwalt (Av.) Selcuk Kozagacli, Präsident der Vereinigung progressiver Rechtsanwält:innen und Träger des Hans-Litten-Preises 2014, sowie gegen weitere Kolleginnen und Kollegen erneut, wie sehr sie sich von den Prinzipien eines fairen und rechtstaatlichen Verfahren entfernt hat und dem politischen Diktat unterworfen wurde.

Am 15.09.2021 wurde der als CHD-Verfahren bekannte Prozess vor der 27. Großen Strafkammer von Istanbul fortgesetzt. Dem Verfahren ging eine Entscheidung der 16. Kammer des Kassationsgerichts vom 03.09.2020 voraus, das die Urteile der 37. Großen Strafkammer von Istanbul vom 20.03.2019 gegen eine Vielzahl von Kolleg:innen bestätigt hat. Aufgehoben und zurückverwiesen wurden die Urteile, soweit sie die Kolleg:innen Barkın Timtik, Ebru Timtik, Selçuk Kozağaçlı und Ezgi Çakır Gökten sowie einige weitere Kolleg:innen betreffen, die sich jedoch nicht in Haft befinden.

Die teilweise Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils hätte ein Beleg für eine unabhängige, sich an den prozessualen und rechtsstaatlichen Regeln orientierende Justiz sein können. Wer aber die Hoffnung hegte, dass sich hieran ein faires Verfahren anschließe, bei denen die angeklagten Kolleg:innen die Möglichkeit haben, vollständige Einsicht in die Akten und in die Beweismittel zu erhalten, eigene Beweisanträge zu stellen, denen nachgegangen wird oder auch nur darauf, dass die vorhandenen Beweise auch tatsächlich durch das Gericht zur Kenntnis genommen und objektiv gewürdigt werden, wurde im Verfahren am 15.09.2021 schnell eines Besseren belehrt.

Auch nach Beendigung des Ausnahmezustandes scheint der politische Wille, Druck und Einfluss auf die Justiz in politischen Verfahren zu nehmen, ungebrochen. Aber auch die Anteilnahme an dem Verfahren innerhalb der anwaltlichen Gemeinschaft der Türkei und international war ungebrochen. Dies zeigte sich an der Teilnahme der über 250 Rechtsanwält:innen aus der Türkei, Belgien, Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, Holland und den Anwaltsorganisationen wie auch den türkischen Rechtsanwaltskammern, für die der Platz im Saal trotz seiner Größe nicht ausreichte. Eine Vielzahl blieb vor dem Saal und wartete bis zum Schluss.

Der Saal verfügt über jeweils zwei sich gegenüberliegende Verteidigerbänke. Auf den Verteidigerbänken der einen Seite nahmen – fast routinemäßig – die aus allen Teilen der Türkei angereisten Kammerpräsidenten in ihren Roben Platz. Unter ihnen auch der Präsident der Rechtsanwaltskammer Istanbul, der Partnerkammer von Berlin. Auf der gegenüberliegenden Bank nahmen die Verteidiger Platz. Die Angeklagten wurden gegenüber der Richterbank platziert, mit dem Rücken zu den Zuhörern.

Als Barkin Timtik, die Schwester der mit der Forderung nach einem fairen Verfahren in den Hungerstreik getretenen und an den Folgen verstorbenen Ebru Timtik, den Saal betritt, ist sie über die Menge der Anwesenden und die Unterstützung sichtlich berührt. Die Bemühungen des Richters für Ruhe zu sorgen, wird durch den Eintritt von Selcuk Kozagacli torpediert. Mit Jubel und rauschendem Applaus werden die Kollegen, allen voran Selcuk Kozagacli begrüßt. Nur sehr schwer und unter Androhung, den Saal räumen zu lassen, gelingt es dem Vorsitzenden Richter, für „Ruhe“ zu sorgen.

Wie groß die Unterstützung für die Angeklagten ist, zeigte sich nicht nur an der anwesenden Menge, sondern auch an der Anzahl der Kolleg:innen, die sich für die Verteidigung haben registrieren lassen und darauf bestanden, im Protokoll namentlich aufgenommen zu werden. Allein die Aufnahme der Rechtsanwält:innen in das Protokoll, durch einen sichtlich genervten Vorsitzenden, dauerte mehr als 20 Minuten und umfasste über 60 Kollleg:innen.

Als der Vorsitzende im Anschluss kopfschüttelnd den Staatsanwalt nach dessen Anträgen fragt, entsteht große Aufregung. Der Staatsanwalt, ein junger Mann ca. Ende 20, ist nicht zu hören. Lediglich seine medizinische Maske bewegt sich. Das Gericht fragt nach, ob der Staatsanwalt die Beendigung der Beweisaufnahme beantragt habe, was von diesem bestätigt wird. Im Saal entsteht eine unglaubliche Unruhe und Aufregung. Von allen Seiten der Verteidigerbank und aus den Zuhörerbänken werden Proteste erhoben. Wie könne die Staatsanwaltschaft die Beendigung beantragen, wenn noch kein einziges Beweismittel im Verfahren eingeführt und bewertet wurde, kein einziger Zeuge gehört wurde, ja nicht einmal feststehe, welche Beweise dem Gericht tatsächlich zur Verfügung stehen, da das Hauptbeweismittel, angeblich digitale Aufzeichnungen aus Belgien, sich nicht in den Akten befinden und schon drei Gerichte sich bemüht hätten, die Aufzeichnungen zu beschaffen.

Der junge Staatsanwalt hat offensichtlich nicht mit einer derart heftigen Reaktion gerechnet und ist überrascht von der Empörung, die von allen Seiten auf ihn einprasselt. Der Staatsanwalt versuchte sich von den Vorwürfen zu befreien. Ihn treffe keine Schuld, da er erst am Abend zuvor angewiesen worden sei, die Terminsvertretung zu übernehmen und den Antrag zu stellen. Ein Raunen geht durch den gesamten Saal. Was aus Sicht des Staatsanwalts als Erklärung angedacht war zeigt tatsächlich das gesamte Ausmaß der Tragödie. Staatsanwälte, die Neulinge entsenden um sich selbst die Finger nicht zu verbrennen und dem Druck zu entgehen, Richter:innen, die im besten Fall hoffnungslos zwischen politischem Willen und der Anwendung des Rechts gefangen sind, im schlimmsten Fall sich aus Überzeugung dem politischen Wunsch unterwerfen. Angeklagte und Verteidiger, die verzweifelt die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards verlangen. Unweigerlich frage ich mich, wie sich wohl die Zukunft des jungen Staatsanwalts nach dieser „hilflosen und verzweifelten“ Erklärung entwickeln wird, und ob sich die gegeißelte türkische Justiz je frei machen kann von der Zügellosigkeit politischer Einflussnahme.

Bevor die angeklagten Kolleg:innen das Wort erhalten, wohlgemerkt teils erstmals in dem seit 5 Jahren anhaltenden Prozess, geben die Kammerpräsidenten Erklärungen ab. Sie ermahnen das Gericht, die Rechtsstaatsprinzipien, denen sie zu dienen geschworen haben, zu beachten. Sie appellieren an das Gewissen des Gerichts und erinnern an all die Richter:innen, Staatsanwält:innen und Polizist:innen, die Angeklagte wissentlich aufgrund von falschen Beweismitteln verurteilten hätten und keinem der Betroffenen ein rechtsstaatliches Verfahren haben zukommen lassen. Eben jene Richter, die nunmehr ihrerseits inhaftiert sind und die fehlende Rechtsstaatlichkeit in ihrem eigenen Verfahren anprangern.  Das Gericht solle sich fragen, in was für einer Türkei es leben und seine Bürger leben lassen wolle. Sie weisen darauf hin, dass das gesamte Verfahren ein Schandfleck in der türkischen Justiz sei und weder etwas mit international anerkannten Standards, nicht einmal etwas mit den geschriebenen türkischen Gesetzen gemein habe.

Sie weisen darauf hin, dass es um die Beschränkung des Anwaltsberufs gehe, um die Warnung an alle Anwält:innen, sich in Acht zu nehmen. Sie sollen die Interessen ihrer Mandanten nicht wahrnehmen, sich nicht der Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte verschreiben, sondern zum Schweigen gebracht werden. Bemerkenswert ist, dass trotz aller Dramatik der Humor und die Ironie nicht verloren gegangen sind.

Der Präsident der Kammer Adana Av. Semih Gökayaz erklärt, dass Selcuk Kozagacli mehrfach auf Einladung der Kammer Adana in unzähligen Seminaren den dortigen Kolleg:innen die Prinzipien der Strafverteidigung erläutert und beigebracht habe. Diese Seminare seien stets und ausschließlich davon geprägt, die Kenntnisse des Prozessrechts und des materiellen Rechts zu vertiefen um mit diesen Instrumenten die Rechte ihrer Mandanten wahrzunehmen. Nun, so der Präsident, da er und seine Kollegen sich seit Jahren mit allen Kräften bemühten, Teil der den Angeklagten vorgeworfenen Taten zu sein und diese in ihren Taten zu unterstützen, frage er sich, weshalb diese seit 5 Jahren in Haft, er jedoch weiterhin frei sei. Es sei ganz offensichtlich, dass er jeden Tag die gleiche Straftat begehe.

Im Anschluss sprechen die inhaftierten Kollegen. Barkin, die ihre Schwester im Laufe des Verfahrens verloren hat, ist anzusehen, wie sehr sie der Verlust auch nach einem Jahr trifft. Sie, die mit ihrer Schwester gemeinsam den Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreis 2020 erhalten hat, schildert, dass Gewalt für sie und ihre Schwester noch nie eine Handlungsalternative gewesen sei. Sie aber setze sich stets für die Schwachen ein; sie habe ihnen eine Stimme und Kraft geben wollen. Sie fragt, was man in Anbetracht dieser faschistischen Strukturen machen könne, außer weiter zu kämpfen mit den Mitteln, die ihr als Rechtsanwältin zur Verfügung stünden. Andere habe sie nicht. Sie werde, auch wenn sie freigelassen werde, nichts anderes tun, als weiterhin ihr Mandanten zu vertreten und Missstände aufzudecken, anzuprangern und die Verantwortlichen beim Namen zu nennen.

Selcuk Kozagacli nimmt zu Beginn seiner Stellungnahme Bezug auf den vollen Saal, die aus vielen Ländern anwesenden Anwaltsorganisationen und die Präsidenten der Rechtsanwaltskammern. In Anbetracht dessen, dass die Anwesenden selbst und ihre Kammern über 90 % aller in der Türkei tätigen Anwälte repräsentieren, so Kozagacli, sei er unabhängig von dem, was das Gericht meine, bereits reingewaschen. Er habe sich nichts vorzuwerfen und habe ein reines Gewissen. Wenn all diese Organisationen erkennten, dass er nichts getan habe, als seinen Beruf auszuüben, dann sei das für ihn bereits der gesellschaftliche Freispruch.

Selcuk zeigt sich kämpferisch und zeigt dem Gericht auf, welche prozessualen Fehler gemacht wurden. Er fragt das Gericht auf welcher Grundlage es die Untersuchungshaft weiterführen werde. Letztlich enthalte das Prozessrecht die Regelung, dass die Untersuchungshaft nur dann länger als 5 Jahre andauern dürfe, wenn zusätzliche neue und erschwerende Gründe dies rechtfertigten. Demgegenüber hat Selcuk Kozagacli bisher weder vom Gericht, nicht einmal von der Staatsanwaltschaft einen einzigen Grund gehört, weshalb man gegen ihn überhaupt Untersuchungshaft angeordnet habe, als dass man zu den zusätzlichen erschwerenden Gründen hätte kommen können. Das geltende Recht ordne an, dass ohne diese Gründe die Person freizulassen sei, in seinem Fall seien jedoch bereits 5 Jahre und 2 Monate vergangen, und man habe, statt ihn freizulassen, nicht einmal angehört. Deutlich wird, dass es Selcuk Kozagacli darum geht, die Gründe der Untersuchungshaftanordnung zu erfahren. Immer wieder drängt Selcuk Kozagacli das Gericht, diese zu nennen.

Er weist darauf hin, dass die angeblichen Beweise nicht in den Akten seien und fragt das Gericht wie es Beweise würdigen wolle, deren Existenz weder erwiesen, noch durch das Gericht je gesehen worden seien.

Er fragt, wie das Gericht, ohne ihn auch nur anzuhören, das Urteil auf die Aussagen eines Zeugen stützen wolle,

  • der wegen mehrerer Morddelikte in Haft gesessen und nach seiner Aussage gegen ihn und seine Kollegen freigelassen worden sei,
  • der nachweislich mehrfach in psychiatrischer Behandlung wegen Schizophrenie gewesen sei, der sich selbst einliefere und von Monstern und Stimmen berichte, die er höre und sehe,
  • der seine Mutter für ein Monster halte und umbringen wolle, der seit seiner Jugend harte Drogen konsumiere und weiterhin schwerste Psychopharmaka einnehme,
  • und der sich nach Deutschland abgesetzt und Asyl wegen Misshandlung beantragt und von Erpressung zur Erlangung seiner Zeugenaussagen seitens des Staates berichtet habe?!

 

Dass die Polizisten, die den Zeugen vernommen haben, die die „angeblichen“ digitalen Beweise ausgewertet und ihre Berichte den Akten beigefügt hätten, dass diese Polizisten und der die Maßnahmen anordnende leitende Staatsanwalt sich ihrerseits wegen Fälschung von Beweismitteln und Mitgliedschaft in der Fettullah-Gülen Bewegung in Haft befinden, reiht sich nur ein in die unendliche Liste der Unfassbarkeiten in diesem Prozess, der schon längst zu einer leidlichen Posse verkommen ist.

Das Gericht hat all diesen Ausführungen der Kammerpräsidenten, der Verteidiger und der inhaftierten Kollegen in Ruhe zugehört und die Verhandlung dann für 30 Minuten unterbrochen, um über die Fortsetzung der Haft zu entscheiden.

Während sich nach 30 Minuten der Saal erneut wieder füllte, die Zuhörer, wie auch die Angeklagten versuchten, ihren Platz einzunehmen, war der Richter offensichtlich nicht bereit, weiter zu warten. Er verkündete kurz: „Fortsetzung der Untersuchungshaft“. Keine Gründe, keine Erläuterung. Nur das Ergebnis „Fortsetzung der Untersuchungshaft“ – nach 5 Jahren ohne Haftgründe, ohne Erläuterung zu den normierten zusätzlichen und erschwerenden Gründen. Er schließt die Verhandlung. Der gesamte Saal und die die noch Hineinströmenden verabschieden mit minutenlangem rhythmischem Klatschen Selcuk Kozagacli, Barkin Timtik und Ihre Kolleg:innen. Jedes Klatschen gibt den Kolleg:innen sichtlich Mut und Zuversicht; jenes Klatschen ist auch eine schallende Ohrfeige in das Gesicht der türkischen Justiz.

 

Aufruf

Der Prozess wird am 16.11.2021 fortgesetzt. Der Verband der Europäischen Rechtsanwaltskammern (FBE; Fédération des Barreaux d’Europe) hat alle anwaltlichen Organisationen und Mitglieder aufgerufen, am 16. November 2021 um 11 Uhr, dem Tag vor dem Prozess, in ihren Roben vor den türkischen Botschaften und Konsulaten zu demonstrieren, um ihre Solidarität und ihre uneingeschränkte Unterstützung für ihre türkischen Kollegen zu zeigen. Der FBE hat in seinem Aufruf die sofortige Freilassung aller Kolleginnen und Kollegen verlangt, die nur deshalb in Haft seien, weil sie ihre Pflichten und Aufgaben als Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten wahrnehmen und/oder von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen.

Der Aufruf wird bislang unterstützt von Rechtsanwaltskammern aus den Niederlanden, aus Norwegen und Frankreich, von der Eurropäischen Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt (ELH/AJDM), der Berliner Strafverteidigervereinigung, dem Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) und von der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ). Auch die RAK Berlin unterstützt den Aufruf.

In Berlin wird am Dienstag, 16.11.2021, 11.00 Uhr die Demonstration vor der Botschaft der Republik Türkei, Tiergartenstraße 19 – 21, 10785 Berlin stattfinden.

Kammerton 11-2021