Am 22. September 2022 fand in Bordeaux die Zeremonie zur Verleihung des Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreises 2021 an die afghanische Kollegin Freshta Karimi statt. Nach zwei Jahren der pandemiebedingten Beschränkungen konnte die Veranstaltung endlich wieder in Anwesenheit aller Jurymitglieder und der etwa 120 geladenen Gäste stattfinden. Zur Jury zählt auch die Rechtsanwaltskammer Berlin.
Freshta Karimi, 38, (geb. 1983 in Kabul), ist Gründerin und Geschäftsführerin von Da Qanoon Ghushtonky (DQG – „auf der Suche nach dem Recht“ auf Paschtunisch), die sich zu einer der größten Organisationen für Rechtshilfedienste in Afghanistan entwickelt hat. Sie war Teil des gesellschaftlichen und politischen Wandels in Afghanistan und ein Kind der ersten Stunde.
Freshta Karimi ist eine aktive Bürger- und Menschenrechtsaktivistin der Zivilgesellschaft und widmet ihre Karriere seit 2002 der Verbesserung des Zugangs zur Justiz und der Förderung der Rechte von Frauen und Kindern. Im Rechtshilfedienst begann sie, mit Strafverteidigern zusammenzuarbeiten. Dies veranlasste sie dazu, Rechtsanwältin zu werden, um mehr Menschen zu helfen und Veränderungen im Rechtssystem herbeizuführen. 2004 schloss Sie ihr Jurastudium an der Payam-e-Noor Universität in Kabul ab und wurde als Anwältin in Kabul zugelassen. 2006 war sie zusammen mit anderen Anwälten Mitgründerin der NGO Da Qanoon Ghushtonky (DQG Legal Aid) mit dem Ziel, speziell afghanische Frauen und Kinder zu unterstützen, damit sie ihre Rechte auf eine gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben, Schulausbildung und Arbeit wahrnehmen können. Keine leichte Aufgabe in einer streng islamisch und vom Kastensystem geprägten rein männerdominierten Gesellschaft. Mit ausschließlich afghanischem Personal richtete sie in siebzehn Provinzen Büros für Rechtshilfe ein. Da Qanoon Ghushtonky zählte bis zu 600 mobile Rechtskliniken und bearbeitete 24.000 Kriminal- und Familienfälle, in denen sie eine Erfolgsquote von 65% für sich beanspruchte.
Leider mussten einige der Büros aufgrund von Drohungen und der Instabilität des Landes geschlossen werden. Die Kollegin war gezwungen, ihr örtliches Rechtshilfebüro für Frauen in Herat zu schließen, nachdem sie eine Mandantin verteidigt hatte, die unter dem Verdacht eines „moralischen Verbrechens“ stand. Damit wollte sie verhindern, von den Taliban, die die Region kontrollierten, ihrerseits angeschuldigt und inhaftiert zu werden. Trotz dieser Beeinträchtigungen konnte sie das Büro jedoch zu einem späteren Zeitpunkt wieder offiziell eröffnen.
Gleichzeitig bemühte sie sich, gegen die Missstände in der Justiz, sowohl in den Justizorganen als auch in den Gerichten, vorzugehen. Staatsanwälte und Strafverteidiger waren häufig Einschüchterungen oder Korruption ausgesetzt. Deshalb stellte ein Anwalt von Da Qanoon Ghushtonky gegenüber seinen Mandanten schon zu Beginn des Mandats immer klar, dass er einen Richter oder Staatsanwalt nicht bezahlen dürfe, da dies ein „Vergehen“ sei. 2019 berichtete Freedom House über unzureichend ausgebildete Richter und die weit verbreitete Korruption im Justizsystem, da Richter und Anwälte häufig Drohungen und Bestechungsgeldern von lokalen Machthabern oder bewaffneten Gruppen ausgesetzt seien. Der im Juli 2020 veröffentlichte Jahresbericht des World Justice Project ergab, dass die Befragten im Jahr 2019 59% der Richter oder Staatsanwälte für korrupt hielten; Korruption wurde von den Befragten als das schwerwiegendste Problem angesehen, mit dem die Strafgerichte konfrontiert seien.
Neben ihrem Engagement für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Afghanistan durch ihre Organisation hat Freshta Karimi versucht, das öffentliche Bewusstsein für rechtliche Fragen auf Bezirks- und Provinzebene zu stärken. Sie arbeitete auch als Programmdirektorin für Frauenprojekte bei Medica Mondial Afghanistan. Sie leitete und koordinierte Projekte für die Organisation Women’s Unit for Rehabilitation in Afghanistan und Pakistan. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit waren stets die Rolle des Gesetzes, der Zugang zur Justiz, die Menschenrechte, die Rechte der Frauen und die Geschlechterproblematik. Um den Schutz der Grundrechte von Frauen und Kindern zu gewährleisten, beteiligte sie sich an der Kampagne zur Förderung des EVAW-Gesetzes, des Anwaltsgesetzes und sorgte dafür, dass die lokalen Gemeinschaften Rechtshilfe erhielten. Eine der Herausforderungen, die sie bewältigt hat, war es, gemeinsam mit der Regierung die Änderung der Strafprozessordnung zu fördern. Sie ist außerdem Mitglied mehrerer Gruppen, die für politische Veränderungen eintreten, und ist viel gereist, um ihre Organisation zu repräsentieren, verschiedene Frauenrechtsfragen zu klären und die Anliegen der afghanischen Frauen hervorzuheben.
Nach der Machtergreifung durch die Taliban musste die Kollegin um ihr Leben fürchten. Sie verließ Afghanistan rechtzeitig und lebt seitdem in Kanada im Exil. Von dort aus unterstützt sie weiterhin Projekte für die Gleichberechtigung der Frauen und setzt sich für den ungehinderten Zugang zur Justiz ebenso wie für deren Unabhängigkeit als zentrale Voraussetzung für ein funktionierendes Rechtssystem in Afghanistan ein.
Für ihren Einsatz wurde Freshta Karimi bereits 2010 von der dänischen Regierung mit der „MDG 3 Champion Torch“ ausgezeichnet, die an Personen verliehen wird, die sich für die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Frauen eingesetzt haben.
Nunmehr erhielt die Kollegin in Bordeaux den weltweit einzigen Internationalen Menschrechtspreis, der ausschließlich von Anwälten für Anwälte als Anerkennung für ihren außerordentlichen Einsatz und ihr Engagement für die Rechte ihrer Mandanten und die Einhaltung der Menschenrechte verliehen wird.