§ 43a Abs. 4 BRAO, § 3 BORA - Widerstreitende Interessen im Familienrecht

Es gehört zu den berufsrechtlichen Grundpflichten eines Anwalts, keine widerstreitenden Interessen zu vertreten (§ 43a Abs. 4 BRAO, § 3 BORA). Die Fallgestaltungen, auf die sich die Verbotsnorm des § 43 a Abs. 4 BRAO bezieht, können in tatsächlicher Hinsicht sehr vielseitig sein (BVerfG, B. v. 03.07.2003, 1 BvR 238/01, Rn. 47, m.w.N.). Erkennt ein Anwalt, dass zwischen den Interessen der von ihm in derselben Rechtssache vertretenen Mandanten ein Widerstreit besteht, so hat er unverzüglich seine(n) Mandanten davon zu unterrichten und alle (!) Mandate in derselben Rechtssache zu beenden (§ 3 Abs. 4 BORA).

Das Familienrecht gilt als besonders „anfällig“ für das Auftreten von Interessenkonflikten (Kammerton – Wussten Sie schon?, Berliner Anwaltsblatt Heft 5/2014, S. 160). Bei einer Vertretung verschiedener Mandanten in familienrechtlichen Angelegenheiten ist es – wie bei allen anderen rechtlichen Angelegenheiten auch – unumgänglich, in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen, ob die verschiedenen Mandate dieselbe Rechtssache betreffen und ob die Interessen der Mandanten gleich- oder gegenläufig sind.

Das durch die Ehe begründete einheitliche Lebensverhältnis stellt eine identische Rechtssache dar (Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl., § 43a Rn. 63). Da die Eheleute im Falle der Trennung und Scheidung über das möglicherweise gleichlaufende Interesse hinaus, möglichst schnell und kostengünstig geschieden zu werden, typischerweise gegenläufige Interessen in Bezug auf die Scheidungsfolgen haben, war sowohl die gemeinsame Beratung als auch die Vertretung beider scheidungswilliger Eheleute, selbst bei einem gemeinsamen Wunsch nach einer einverständlichen Scheidung, lange Zeit in Rechtsprechung und Literatur als berufsrechtlich unzulässig angesehen worden. Ob dies sogar einen Parteiverrat nach § 356 StGB darstellt, ist bislang noch nicht höchstrichterlich geklärt (Feuerich/Weyland, aaO, Rn. 67 m.w.N.).

Seit einiger Zeit wird in Rechtsprechung und Literatur die Meinung vertreten, dass eine gemeinsame Beratung der Eheleute mit dem Ziel einer einvernehmlichen Scheidung im Grundsatz möglich sei, wobei Voraussetzungen und Folgen einer solchen gemeinsamen Beratung unterschiedlich gesehen werden (BGH, U. v. 19.09.2013, IX ZR 322/12, Rn. 8). Entsprechend der vorbenannten Entscheidung des BGH kann eine gemeinsame Beratung der scheidungswilligen Eheleute durch den Anwalt zulässig sein, wenn er die Mandanten vor der Beratung darauf hingewiesen hat, dass er im Grundsatz nur einen von ihnen beraten könne, bei einer dennoch gewünschten und dann erfolgenden gemeinsamen Beratung anschließend aber nicht mehr die Interessen einer Partei einseitig vertreten dürfe, und dass der Anwalt jedenfalls dann, wenn die gemeinsame Beratung nicht zu einer Vereinbarung über die Scheidungsfolgen führe und widerstreitende Interessen der Eheleute unüberwindbar auftreten, das Mandat gegenüber beiden Eheleuten niederlegen müsse, mit der Folge, dass die Eheleute dann neue Anwälte beauftragen müssten (BGH, IX ZR 322/12, Rn. 10). Hiervon zu unterscheiden ist die stets mögliche Beratung nur eines Ehegatten, die auch in Anwesenheit des anderen Ehegatten erfolgen kann, wenn klargestellt ist, dass nur der eine Ehegatte beraten wird und dieser ausdrücklich damit einverstanden ist, dass der andere anwesend ist, sowie den Anwalt von seiner Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem anderen Ehegatten befreit hat.

Da durch die Vorschrift des § 43a Abs. 4 BRAO – in verfassungsrechtlich zulässiger Weise – in die Berufsausübungsfreiheit eines Anwalts eingegriffen wird, ist eine verfassungskonforme restriktive Auslegung der Vorschrift erforderlich. Insbesondere ist unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles sorgfältig zu prüfen, ob widerstreitende Interessen bestehen und vertreten werden. Hierbei ist maßgebend, ob der in den anzuwendenden Rechtsvorschriften typisierte Interessenkonflikt im konkreten Fall tatsächlich auftritt (BGH, U.v. 23.04.2012, AnwZ (Brfg) 35/11 Rn. 14). Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen § 43a Abs. 4 BRAO würde daher das Anknüpfen an einen zwar möglichen, tatsächlich aber nicht bestehenden, d.h. latenten, Interessenkonflikt gegen das Übermaßverbot verstoßen und wäre daher verfassungsrechtlich unzulässig (BGH, wie vor, m.w.N.).

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein Rechtsanwalt nicht zugleich die unterhaltspflichtigen Eltern bei der Abwehr des Anspruchs und das unterhaltsberechtigte Kind bei dessen Durchsetzung vertreten darf (BGH, U.v. 23.04.2012, AnwZ (Brfg) 35/11 Rn. 11). Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls ist jedoch stets zu prüfen, ob ein Interessenwiderstreit aufgrund der Besonderheiten des Falles tatsächlich besteht. Entsprechend den Feststellungen des BGH liege kein Interessenkonflikt vor, wenn ein Anwalt einerseits den Kindesvater bei der Abwehr eines Zugewinnausgleichsanspruches und andererseits dessen erwachsenen Sohn bei der Durchsetzung eines Kindesunterhaltsanspruches gegen die Kindesmutter vertrete. In dem von dem BGH entschiedenen Fall hatte der Sohn den Anwalt mit der Geltendmachung seines Unterhaltsanspruches nur gegen die Mutter beauftragt, der Vater war bei der Erteilung des Auftrags zugegen und hatte den Gebührenvorschuss des Anwalts gezahlt. Darüber hinaus war der Vater bis dahin allein für den Unterhalt seines Sohnes aufgekommen und war auch bereit – und dies war entscheidend -, dies unabhängig vom Ausgang des Rechtsstreits weiterhin zu tun. Fragen der Verschwiegenheitspflicht waren in diesem konkreten Fall nicht berührt, da der Vater dem Anwalt alle für die Berechnung des Kindesunterhalts erforderlichen Unterlagen zur Verfügung gestellt hatte (BGH, aaO, Rn. 15).

Dementsprechend hat auch der AGH Frankfurt am Main in seiner Entscheidung vom 07.11.2018 (2 AGH 4/16) darauf hingewiesen, dass das Anknüpfen der berufsrechtlichen Verbotsnorm an einen lediglich latenten Interessenkonflikt gegen das Übermaßverbot verstoßen würde und damit verfassungsrechtlich unzulässig wäre (https://anwaltsblatt.anwaltverein.de/de/anwaltsblatt/anwaltsblatt-datenbank?FORM_SUBMIT=tl_dav_juris_search_20035&query=2019%2C+394). Die Vertretung eines volljährigen Kindes in einem Unterhaltsverfahren gegen die Eltern sei trotz einer vorherigen gemeinsamen Vertretung der Kindesmutter und des damals minderjährigen Kindes dann im Hinblick auf eine Interessenkollision nicht berufsrechtlich unzulässig, wenn die Mutter leistungsunfähig ist, und somit ein zwar grundsätzlich möglicher Interessenkonflikt im konkreten Fall nicht bestehe.

Kammerton 10-2019