Aktuelle Entwicklungen zu den Stundensatzvereinbarungen

Die 84. Tagung der Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten der Rechtsanwaltskammern fand auf Einladung der Rechtsanwaltskammer Stuttgart am 06.04.2024 in Stuttgart statt.

 

1.            Aktuelle Entwicklungen bzgl. des EuGH-Urteils zu Stundensatzvereinbarungen

Die Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten hatten sich bei ihrer 82. Tagung am 29.04.2023 in Dortmund ausführlich mit dem Urteil des EuGH vom 12.01.2023 (Rechtssache C-395/21; BRAK-Mitt. 2023, 173 mit Anm. Kunze) zum Transparenzgebot bei einer Zeitaufwandsklausel befasst.

Bei ihrer 84. Tagung am 06.04.2024 in Stuttgart beschäftigten sie sich nun erneut mit dem EuGH-Urteil. Hintergrund sind die aktuellen und problematischen Entwicklungen in der Praxis, da einige Rechtsschutzversicherungen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Regress nehmen mit der Begründung, die geschlossenen Vergütungsvereinbarungen seien wegen des genannten EuGH-Urteils unwirksam.

Deshalb haben die Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten folgende Thesen zum aktuellen Stand der Entwicklungen und der nationalen Rechtsprechung in Bezug auf das Urteil des EuGH vom 12.01.2023 – C-395/21 beschlossen:

  • Der Verbraucher muss in die Lage versetzt werden, die sich für ihn aus der Stundenlohnvereinbarung ergebenden wirtschaftlichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien einzuschätzen (EuGH, Rn. 37). Dies kann durch eine Schätzung der erforderlichen Stunden oder die Verpflichtung, in angemessenen Zeitabständen abzurechnen, erreicht werden (EuGH, Rn. 44). Die vom EuGH eben genannten Möglichkeiten sind aber nicht abschließend zu verstehen, Transparenz kann auch auf andere Weise geschaffen werden (OLG Köln, Urteil v. 12.04.2023,11 U 218/19, Rn. 49). Allerdings ist es für den Rechtsanwalt „schwer, wenn nicht sogar unmöglich, bei Vertragsschluss vorherzusehen, wie viele Stunden genau erforderlich sind“ (EuGH, Rn. 41). Deshalb muss der Verbraucher jedenfalls in die Lage versetzt werden, die „Größenordnung“ der Kosten einzuschätzen, etwa durch eine Schätzung der mindestens erforderlichen Stunden (EuGH, Rn. 44). Für die Festlegung des Mindestaufwands reicht es auch aus, wenn mindestens die gesetzliche Vergütung nach dem RVG als Untergrenze des Aufwandes vereinbart wird (OLG Köln, a. a. O., Rn. 49).
  • Ist eine Klausel wegen fehlender Angaben zum voraussichtlichen Aufwand nicht transparent, ist sie in Deutschland allein deshalb jedoch nicht unwirksam. Denn eine Klausel ist grundsätzlich nicht allein deshalb missbräuchlich und damit nichtig, wenn sie dem Transparenzerfordernis (Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13/EWG) nicht entspricht (EuGH, Rn. 49, Urteilstenor 3). Eine Nichtigkeit allein wegen Intransparenz tritt nur ein, wenn der betreffende Mitgliedstaat ein höheres Schutzniveau als die Richtlinie 93/13 vorsieht. Dies ist für die Regelungen des BGB in Deutschland nicht der Fall (OLG Bamberg, Urteil v. 15.06.2023, 12 U 89/22, Rn. 76). Die Wirksamkeit einer intransparenten Klausel ist demgemäß durch eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Vertragsschlusses zu prüfen. Hierbei sind auch die Kenntnisse und Fähigkeiten des Vertragspartners zu berücksichtigen (OLG Bamberg, a. a. O., Rn. 79). Sind auf Verbraucherseite mehrere Beteiligte vorhanden, ist ein besonderes Fachwissen eines Beteiligten den anderen Beteiligten nach dem Rechtsgedanken des § 166 BGB zuzurechnen (OLG Bamberg, a. a. O., Rn. 81). Dies gilt auch für die in der Praxis häufigen Fälle, in denen ein Rechtschutzversicherer bei der Aushandlung der (Stunden-) Gebührenvereinbarung beteiligt war. Hier ist dem Verbraucher das hohe Fachwissen des Rechtschutzversicherers nach dem Rechtsgedanken des § 166 BGB zuzurechnen.
  • Ist eine Vereinbarung über Stundenhonorar unter Berücksichtigung aller Umstände unwirksam, kann das Gericht die rechtliche Lage wiederherstellen, in der sich der Verbraucher ohne die Vereinbarung befunden hätte. Es kann allerdings nicht selbst bestimmen, welche Vergütung für die schon erbrachten Dienstleistungen angemessen ist (EuGH, Urteilstenor 4). Für Deutschland bedeutet dies, dass das Gericht unter Wiederherstellung der ohne eine Stundenhonorarvereinbarung bestehenden Lage die gesetzlichen Gebührenvorschriften anwenden kann und muss.

 

2.       Gebührengutachten über die Angemessenheit des abgerechneten Zeitaufwands

Die Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten beschäftigten sich mit der Frage, ob die Vorstände der Rechtsanwaltskammern verpflichtet sind, Gebührengutachten über die Angemessenheit des abgerechneten Zeitaufwands für die Gerichte nach § 3a Abs. 3 RVG zu erstellen. In diesem Zusammenhang diskutierten sie den Beschluss des OLG Düsseldorf vom 08.01.2019 – I-24 U 84/18. Danach sei ein Gericht aus eigener Sachkunde in der Lage, den Zeitaufwand anwaltlicher Tätigkeit zu schätzen (§ 287 ZPO), denn auch ein Richter leiste vergleichbare Arbeit, indem er Informationen rechtlicher Art verarbeitet, Recherchen durchführt und Dokumente erstellt.

Nach Auffassung der Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten bezieht sich die Angemessenheitsprüfung nach § 3a Abs. 3 RVG auf den Gesamtbetrag der Vergütung, nicht auf die Stundenzahl. Zudem sei die Frage, wie viele Stunden der Rechtsanwalt aufgewendet hat, Teil der Sachverhaltsaufklärung der Gerichte. Tatsächliche Fragen müsste das Gericht vorab klären.

Die Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten fassten deshalb – zur Bekräftigung des Beschlusses der 61. Tagung – folgenden einstimmigen Beschluss:

Die Vorstände der Rechtsanwaltskammern sind nicht verpflichtet, Gutachten zur Angemessenheit des Zeitaufwands zu erstatten. Die Rechtsanwaltskammern sollten den Gerichten aber einen geeigneten Sachverständigen benennen.

 

3.            Kostenerstattung eines vom Hauptbevollmächtigten beauftragten Terminsvertreters

Thema der Tagung waren auch zwei Beschlüsse des BGH – Beschluss vom 09.05.2023 – VIII ZB 53/21 und Beschluss vom 22.05.2023 – VIa ZB 22/22 – zur Kostenerstattung eines vom Hauptbevollmächtigten beauftragten Terminsvertreters, wonach diese Kosten nicht vom Hauptbevollmächtigten an die Partei weitergereicht werden können. Damit klärte der BGH nun eine bislang nicht höchstrichterlich entschiedene Frage. Die Entscheidung des BGH halten die Gebührenreferenten für richtig.

Nach Auffassung des BGH fallen die gesetzlichen Gebühren und Auslagen nach dem RVG – hier: Terminsgebühr nach Nr. 3104 VV RVG – für einen Terminsvertreter nur an, wenn dieser von der Partei selbst oder in deren Namen durch den Hauptbevollmächtigten beauftragt worden ist. Erteilt hingegen der Hauptbevollmächtigte im eigenen Namen den Auftrag zur Terminsvertretung, entstehen der Partei laut BGH keine Kosten. Diese seien auch nicht als Auslagen des Hauptbevollmächtigten im Sinne der Vorb. 7 Abs. 1 Satz 2 VV RVG i. V. m. §§ 675, 670 BGB erstattungsfähig. Denn das Honorar eines Terminsvertreters stelle die Gegenleistung allein für die Wahrnehmung des Termins im eigenen Gebühreninteresse des Hauptbevollmächtigten dar, so der BGH.

 

4.            Geltungsbereich des Gebührenunterschreitungsverbots nach § 49b Abs. 1 Satz 1 BRAO

Ferner setzten sich die Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten mit der Frage auseinander, ob das Gebührenunterschreitungsverbot nach § 49b Abs. 1 Satz 1 BRAO instanzübergreifend gilt. Hintergrund ist die Fragestellung, ob eine Vergütungsvereinbarung dahingehend abgeschlossen werden kann, dass die Höhe der Vergütung den gesetzlichen Gebühren der 1. und 2. Instanz entspricht, allerdings nur für die 1. Instanz gilt und für die 2. Instanz – sofern es dazu kommt – keine weiteren Gebühren anfallen.

Dass die Gebühr angelegenheitsbezogen und nicht auftragsbezogen instanzübergreifend wirkt, ergibt sich nach Ansicht der Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten aus § 49b Abs. 1 Satz 2 BRAO („Auftrag“) i. V. m. § 15 Abs. 1 RVG („vom Auftrag bis zur Erledigung der Angelegenheit“). Denn § 15 Abs. 1 RVG verknüpfe den Begriff des Auftrags mit dem Begriff der Angelegenheit: Die Angelegenheit ist instanzbezogen. Da die Gebühr angelegenheitsbezogen ist, sei sie auch instanzbezogen.

Die Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten vertreten die Auffassung, dass der Gebührenbegriff instanzgebunden ist, sodass das Gebührenunterschreitungsverbot nach § 49b Abs. 1 Satz 1 BRAO für jede Instanz gilt.

 

5.            85. Tagung der Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten

Die Rechtsanwaltskammer Tübingen wird die 85. Tagung der Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten der Rechtsanwaltskammern am 28.09.2024 in Reutlingen ausrichten.

Kammerton 07/08-2024