"Solange es weiße Flecken auf der Karte der Erinnerung gibt, ist noch nicht genug getan"

Rechtsanwalt und Notar Dr. Marcus Mollnau

Ansprache von Kammerpräsident Dr. Marcus Mollnau bei der Präsentation der 3. Auflage von „Anwalt ohne Recht“:

„Namens des Vorstandes, des Präsidiums sowie der Geschäftsführung der Rechtsanwaltskammer Berlin und auch im eigenen Namen begrüße ich Sie sehr herzlich zur Vorstellung der 3. Auflage des Buches „Anwalt ohne Recht“. Ich freue mich unbändig, dass Sie alle erschienen sind. Und in gleicher Weise freue ich mich, dass wir Ihnen mit unserer Einladung keinen Zoom-Link zuschreiben mussten. Präsenzveranstaltung – ich glaube, dieser Begriff hat bei der Suche nach dem Wort des Jahres einige Chancen.

Meine Damen und Herren,

in einem Mitteilungsblatt der jüdischen Gemeinde Berlins fand sich Anfang der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts auf den hinteren Seiten folgender Witz:

„Ein Lehrer steht vor seiner Klasse und wendet sich an einen Schüler: „Hermann,“ sagt der Lehrer, „Hermann, nenne mir bitte die 12 kleinen Propheten.“ Hermann springt sofort auf – aber er hat schlecht gelernt. Er verwechselt die 12 Propheten mit den 12 Stämmen Israels und legt los: „Ruben, Levy, Dan, Josef, …“. „Halt!“ ruft der Lehrer lachend und fragt die Klasse: „Mit wem hat unser Hermann gerade die 12 Propheten verwechselt?“ Daraufhin der kleine Moishe: „Das, was Hermann aufgezählt hat, sind die Anwälte beim Amtsgericht Mitte.“

Keine andere Rechtsanwaltskammer Deutschlands hatte einen größeren Anteil an jüdischen Kolleginnen und Kollegen als die Rechtsanwaltskammer Berlin. Von allen damals zugelassenen Anwälten waren mehr als die Hälfte, mehr als 50 %, jüdischer Herkunft. Und diese Kolleginnen und Kollegen belebten und bereicherten nicht nur das Kammerleben, sie waren auch prominent vertreten bei der täglichen Arbeit im Kampf um das Recht.

Und sie waren auch sichtbar: Vor einigen Jahren hat die Rechtsanwaltskammer Berlin gemeinsam mit dem Landesarchiv Berlin einen Bildband mit Fotografien des Gerichtsreporters Leo Rosenthal aus jener Zeit herausgegeben. Rosenthal fotografierte in den Gerichtssälen Berlins mit versteckter Kamera. Man sieht auf seinen Fotos dicht gefüllte AnwältInnenbänke: Apfel, Goldstein, Benjamin, Litten, Olden, Levy, Frey, Alsberg und manche andere. Der Bildband dokumentiert in wunderbarer Weise justizielle und anwaltliche Zeitgeschichte. Ich nehme ihn immer wieder gern zur Hand.

Aber wenn man den Bildband zuschlägt, die Augen schließt und sich vorstellt, wie die AnwältInnenbänke nur wenige Jahre später aussehen: Sie waren verwaist. Sie waren leer –  die dort vor kurzem noch Tätigen waren aus dem Beruf gedrängt, entrechtet, aus dem Land getrieben, deportiert, ermordet.  Eine Leere, die dafür steht, dass wenn das Recht des Stärkeren über die Stärke des Rechts triumphiert, niemand für das Recht einsteht.

Bereits 1998 legte die Rechtsanwaltskammer Berlin die 1. Auflage vor. Initiiert von unserem israelischen Kollegen Joel Levi und wesentlich gefördert vom damaligen Kammerpräsidenten Bernhard Dombek sollte das Buch den jüdischen Kolleginnen und Kollegen ihre Biografie und ihre Persönlichkeit, ihren Namen und ihr Gesicht wiedergeben – das ist der prägende Geist des Buches in all seinen Auflagen.

In der 3. Auflage sind neue Namen und weitere Erkenntnisse enthalten; die 3. Auflage ist um 200 Seiten gewachsen. Es ist der unermüdlichen und mit singulärem Wissen ausgestatteten Professionalität der Autorin, Frau Dr. Simone Ladwig-Winters, zu verdanken, dass dieses Buch in der 1., in der 2. und auch in der 3. Auflage erscheinen konnte. Ohne Frau Dr. Ladwig-Winters, ihre enormen Kenntnisse, ihr profundes Wissen und ihre international weit verzweigte Vernetzung wäre dieses Buches nicht möglich gewesen. Ihnen, verehrte Frau Dr. Ladwig-Winters, dafür herzlichen und aufrichtigen Dank der Rechtsanwaltskammer Berlin.

Und ich danke in gleicher Weise dem be.bra-Verlag. Die zielführende, erfolgsorientierte und vor allem immer sehr, sehr angenehme Zusammenarbeit ist großartig. Und allein wie sie es wieder geschafft haben, auf den Punkt genau zur heutigen Veranstaltung das Buch vorzulegen, spricht bereits Bände: Sehr geehrter Herr Dr. Zagolla, Ihnen, der Lektorin Frau Dietz und dem gesamten Verlagsteam dafür herzlichen Dank!

Die Rechtsanwaltskammer Berlin war die erste Anwaltskammer Deutschlands, die sich mit dem Schicksal ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen beschäftigte. Das Echo auf die 1. Auflage war enorm; das Projekt fand viele begeisterte Nachahmer. Nicht nur in der Anwaltschaft, sondern auch bei anderen Institutionen, Staatsanwaltschaften und Gerichten.

Auch in der Bundesrechtsanwaltskammer wurden die Erinnerung an und die Beschäftigung mit den Lebenswegen unserer jüdischen Kolleginnen und Kollegen fest verankert. Die mit dem Berliner Buch „Anwalt ohne Recht“ gleichnamige Ausstellung, die von der Bundesrechtsanwaltskammer später weltweit diverse Male erfolgreich präsentiert wurde, ist dafür ein Beleg. Und ob nun das Label „Anwalt ohne Recht“ zuerst mit der Berliner Kammer oder mit der Bundesrechtsanwaltskammer in Verbindung steht, ist nebensächlich: Es ist wie immer: um die Elternschaft des Erfolges buhlen viele, allein der Misserfolg ist eine Waise.

Aber ist es überhaupt noch notwendig, ist es noch erforderlich, heute, mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Holocaust, die Erinnerung wachzuhalten?

Für mich lautet die Antwort: Solange es weiße Flecken auf der Karte der Erinnerung gibt, ist noch nicht genug getan.

Ein kleines Beispiel: Mitte Mai dieses Jahres wurden in Görlitz, einer wunderschönen Stadt in Sachsen, Stolpersteine verlegt; einer der Steine für Hans Nathan. Nathan war ein bis 1933 in Görlitz wirkender Rechtsanwalt, der später, nach Rückkehr aus der englischen Emigration, zum führenden Zivil- und Zivilprozessrechtswissenschaftler an der Humboldt-Universität in Ostberlin aufstieg. Er war eine ambivalente Persönlichkeit in einem Jahrhundert der Extreme.

Gelegentlich dieser Stolpersteinverlegung hielt ich im Landgericht Görlitz einen Vortrag zur Biographie und zum wissenschaftlichen Wirken von Hans Nathan. Als mich am Ende dieses angenehmen Abends der Hausherr verabschiedete, merkte er an, ihm sei gelegentlich meines Vortrages eine Idee gekommen. Man könne doch, so sagte er, einmal recherchieren, ob es am Landgericht Görlitz jüdische Richterinnen oder Richter gegeben habe und was aus ihnen geworden sei. „Ja, Herr Präsident“ sagte ich, „Ja, das sollten Sie jetzt tun.“ Es soll auch im letzten sächsischen Winkel unseres Landes keine weißen Flecken geben.

Das Buch „Anwalt ohne Recht“ ist weder eine Wiedergutmachung noch der Versuch einer Exkulpation – es war und es ist das Eingestehen eigener Unzulänglichkeiten und eigener Mitverantwortung. Damals gab es kaum Proteste oder Widerspruch aus der Anwaltschaft, erst recht nicht aus der Anwaltskammer. Und vergessen wir nicht, dass es auch Berliner Anwälte waren, die den Holocaust dazu nutzten, um sich an der Lebensleistung und dem Vermögen vertriebener und ermordeter Kolleginnen und Kollegen zu bereichern.

Und zugleich ist die Publikation, wie eine meiner Vorgängerinnen im Amt, Margarete Gräfin von Galen, im Vorwort zur 2. Auflage betonte, auch ein Zeichen der Hoffnung. Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Jede Zukunft hat ihre eigene Herkunft – eingedenk dieser Erkenntnis müssen wir, die Berliner und auch die deutsche Anwaltschaft, uns bewusst sein und uns immer wieder aufs Neue bewusst machen, wie fragil und wie verwundbar Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind. Keine Berufsorganisation, egal, ob privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich determiniert, darf schweigen, wenn Kolleginnen und Kollegen diskriminiert oder ausgegrenzt werden. Egal wo auf dieser Welt. Die Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte statuiert für uns alle die Aufgabe, Ausgrenzungen und Stigmatisierungen von Andersdenkenden, Anderslebenden, Andersgläubigen zu verhindern.

Zur heutigen Veranstaltung eingeladen sind junge Juristinnen und Juristen, die derzeit beim Kammergericht ihre Referendarausbildung durchlaufen. Es hat mehr als 70 Jahre gedauert, bis der deutsche Gesetzgeber als Inhalt der juristischen Ausbildung auch eine Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht statuierte, zudem sollen jetzt auch die „ethischen Grundlagen des Rechts“ gelehrt werden. Alle, die in dieser Sparte der Referendarausbildung aktiv sind, kennen die oft bereits am Anfang gestellte Frage: Ist das jetzt examensrelevant, müssen wir das wissen? Die Antwort ist einfach, sie lautet „Nein!“. Ein großartiges Punkteexamen können sie auch ohne dieses Wissen schaffen. Aber sie werden Recht nicht im Sinne eines Rechtsstaates Radbruch‘scher Prägung anwenden und sprechen, wenn sie unsere gemeinsame Vergangenheit nicht kennen! Ich freue mich deshalb sehr über die Teilnahme der Referendarinnen und Referendare; Ihnen ein herzliches Willkommen bei Ihrer (hoffentlich zukünftigen) Rechtsanwaltskammer Berlin. Und natürlich: Alles Glück dieser Welt für Ihr Examen!

Dass die 3. Auflage von „Anwalt ohne Recht“ in meiner Amtszeit erscheint, erfüllt mich mit großer Freude. Ich bin sehr stolz auf die Rechtsanwaltskammer Berlin, auf „meine“ Rechtsanwaltskammer, dass sie auch dieses Projekt wieder erfolgreich gestemmt hat. Und deshalb auch inhouse ein großes „Danke“ an unseren Geschäftsführer, an Sie, lieber Herr Schick, für Ihre viele Arbeit; das war großartig und es hat mal wieder richtig Spaß gemacht!

Die Rechtsanwaltskammer Berlin legt die 3. Auflage von „Anwalt ohne Recht“ im Frühsommer 2022 vor. In einer Zeit, in der manche – und ich gehöre dazu – gewünschte Gewissheiten und erhoffte Selbstverständlichkeiten ad acta legen müssen. Der nur einige hundert Kilometer von uns entfernt tobende Krieg macht deutlich: Nichts ist sicher, nichts ist feststehend, nichts ist ein Automatismus. Wachsam bereits den Anfängen zu wehren, international und auch national, ist die Aufgabe einer jeden Rechtsanwältin und eines jeden Rechtsanwalts. Das Buch soll dazu einen Beitrag leisten.

Und ich bin nicht nur fest in meiner Hoffnung, sondern auch sicher in meinem Wissen: Die Rechtsanwaltskammer Berlin wird auch in Zukunft in diesem Geist handeln.“

Kammerton 07/08-2022