Mehr als hundert Anfragen an den neuen Verein "Fehlurteil und Wiederaufnahme"
Fragen an Rechtsanwalt Prof. Dr. Stefan König zum Projekt „Fehlurteil und Wiederaufnahme“
RA Prof. Dr. Stefan König ist seit 1985 Rechtsanwalt in Berlin. Er ist seitdem u.a. als Vorstandsmitglied der RAK Berlin (1990 – 1996) und der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen (1996 – 2002), als Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des DAV (2006 – 2016) und als Gründungsmitglied des Menschenrechtsausschusses des DAV sehr aktiv und im Schrifttum als Autor mehrerer Kommentare und einer Vielzahl von Aufsätzen sowie als Sachverständiger bekannt. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen.
Kammerton: Im Jahr 2020 haben Sie den Verein „Fehlurteil und Wiederaufnahme“ gegründet, um die Wiederaufnahme von Strafprozessen zu erleichtern. Gab es einen konkreten Anlass für die Gründung?
RA Prof. Dr. Stefan König: Mit dem Phänomen des Fehlurteils und dem Versuch, es zu vermeiden, befasse ich mich seitdem ich Strafverteidiger bin, also seit fast vierzig Jahren. Ich habe mich intensiv mit der Diskussion hierüber in den USA beschäftigt, die insbesondere durch das „Innocence-Project“ beflügelt wurde, das vor 30 Jahren von zwei New Yorker Strafverteidigern begründet wurde. Ich habe auch Gespräche mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dieses Projekts geführt und die wissenschaftliche Diskussion zu der Problematik in den USA, in jüngerer Zeit auch in Deutschland, ausgewertet. Zusammen mit einem befreundeten Wissenschaftler, Prof. Carsten Momsen von der FU Berlin, der ebenfalls Kontakte zum Innocence Project hat und auch in New York als Gastprofessor lehrt, habe ich das Projekt „Fehlurteil und Wiederaufnahme“ ins Leben gerufen, schließlich, gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlern und Praktikern, den Verein gegründet. Eine wesentliche Rolle spielen in dem Projekt neben ehrenamtlich tätigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten auch die Studierenden, die in sog. „law clinics“ an der Vorbereitung von Wiederaufnahmeanträgen mitarbeiten. Eine solche „law clinic“ gibt es an der FU Berlin schon länger, auch in Göttingen, wo ich Honorarprofessor bin.
Es gab also keinen konkreten, akzidentiellen Anlass zur Gründung des Vereins. Sie hatte eine längere Vorgeschichte. Ich meine, es war überfällig, dass auch in Deutschland eine dem „Innocence Project“ ähnliche Initiative gegründet wird.
Mit welchen Mitteln kann dieses Hilfsprojekt Unterstützung leisten?
Es wenden sich Menschen an uns, die meinen, sie seien zu Unrecht verurteilt worden. Sie suchen Hilfe bei der Beseitigung der Urteile. Häufig geht es um langjährige, auch lebenslange Freiheitsstrafen. Die Anfragenden müssen einen Fragebogen ausfüllen, mit denen wir Informationen, insbesondere zu möglichen neuen Tatsachen und Beweismitteln erfragen. Wir lassen uns das Urteil schicken. Es folgt dann zunächst eine kursorische Vorprüfung durch Anwältinnen und Anwälte, die im Projekt ehrenamtlich mitarbeiten. Scheint die Anfrage nicht offensichtlich aussichtslos, befasst sich eine Gruppe Studierender unter anwaltlicher Leitung mit dem Fall. Kommt sie zu dem Ergebnis, dass Ansatzpunkte für ein Wiederaufnahmeverfahren gegeben sind, so wird der Vorgang mit einem Votum an eine/n Anwalt oder Anwältin aus einem Netzwerk von Kolleg/inn/en abgegeben, über das wir in ganz Deutschland verfügen. Diese/r, in der Regel in der Nähe des Anfragenden (zumeist sind es Strafgefangene) ansässig, kann dann seine Beiordnung zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens beantragen, wenn nicht Mittel zur Finanzierung des Verfahrens zur Verfügung stehen. Finanzielle Hilfe können wir hierfür nicht zur Verfügung stellen.
Wie sieht die Bilanz des Vereins bisher aus?
Wir haben inzwischen weit über hundert Anfragen. Viele davon erweisen sich aber schon in der ersten Vorprüfung als ungeeignet, weil z.B. lediglich beklagt wird, dass das Gericht dem Verurteilten nicht zugehört und/oder der Hauptbelastungszeuge gelogen habe. In einem Fall ist eine Kollegin, die ihn übernommen hat, zur Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens beigeordnet worden. Dort wird jetzt ein Sachverständigengutachten eingeholt. In einem weiteren Fall, den ich selbst bearbeite, ist die Beiordnung in erster Instanz abgelehnt worden, ich bereite gerade die Beschwerdebegründung vor. Im Übrigen haben wir auch die Kollegin Frau Rick in München unterstützt, die einen nach über zehn Jahren Haft kürzlich nach Zulassung der Wiederaufnahme freigelassenen Mandanten verteidigt.
Erfolge im Sinne einer Urteilsaufhebung können wir noch nicht vorweisen. Das ist nach so kurzer Zeit, wie das Projekt besteht, auch noch nicht zu erwarten.
An dieser Stelle noch meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen, die dieses Interview lesen: Wenn Sie selbst Fälle haben, bei denen Sie meinen, es liege eine strafrechtliche Fehlverurteilung vor und in denen auch neue Tatsachen und/oder Beweismittel gegeben sind, die eine Wiederaufnahme möglich erscheinen lassen, die Sie nicht selbst beantragen wollen oder können, dann teilen Sie uns solche Fälle gerne mit. Wir gehen davon aus, dass solche Fälle, die schon durch eine anwaltliche Vorprüfung gegangen sind, aussichtsreicher zu verfolgen sind als die Hilferufe verzweifelter Menschen, die wiederaufnahmerechtlich leider oft wenig hergeben.
Finden Sie genügend Kolleginnen und Kollegen, die das Projekt unterstützen?
Das Engagement von Kolleginnen und Kollegen, die uns durch ehrenamtliche Tätigkeit unterstützen, ist enorm. Wir bekommen auch immer wieder Anfragen, ob und wie eine Mitarbeit möglich wäre. Das ist erfreulich, denn zu tun gibt es genug. Natürlich nehmen wir auch Spenden entgegen, der Verein ist gemeinnützig. Wir haben auch Unterstützung durch große Unternehmen und eine private Stiftung. Wir können jetzt eigene (bescheidene) Räume anmieten, beschäftigen eine studentische Hilfskraft und werden demnächst eine wissenschaftliche Mitarbeiterin auf einer Halbtagsstelle anstellen.
Wäre die audio-visuelle Dokumentation der Gerichtsverhandlungen vor den Landgerichten, über die seit dem Gesetzentwurf des Bundesjustizministers vom November 2022 heftig gestritten wird, hilfreich?
Die Dokumentation der Hauptverhandlung wäre außerordentlich wichtig. Denn oft geht es im Wiederaufnahmeverfahren um die Frage, ob eine Tatsache neu ist oder bereits Gegenstand der Beweisaufnahme war. Da die Verhandlung nicht dokumentiert wird, lässt sich der – erforderliche – Nachweis häufig nicht erbringen, dass eine wesentliche Tatsache in der Verhandlung nicht zur Sprache kam, dass ein Zeuge dazu nicht gehört wurde oder dass ein Sachverständiger sie bei seinem Gutachten nicht berücksichtigt hat
Verfolgen Sie mit dem Verein noch Ziele, die über die Unterstützung in den konkreten Fällen hinausgehen?
Wir bieten Fortbildungsveranstaltungen auf dem Gebiet des Wiederaufnahmerechts und auch von kriminalistischen Methoden an, Fehlerquellen bei der DNA-Analyse, Faserspurenanalyse, kriminalistische Methodik etc.. Dabei geht es uns auch darum, die Qualifikation von Anwältinnen und Anwälten für Wiederaufnahmeverfahren zu verbessern. An dem Projekt sind inzwischen verschiedene Universitäten beteiligt, neben der FU Berlin und der Universität Göttingen auch die in Augsburg, Köln, Greifswald, Frankfurt (Oder), Kontakte bestehen auch nach Bielefeld. Zwischen den Professorinnen und Professoren findet ein Austausch über Curricula statt. Perspektivisch geht es uns natürlich auch darum, anhand von Wiederaufnahmeverfahren Fehlerquellen zu analysieren und schließlich auch rechtspolitisch eine Verbesserung des Wiederaufnahmeverfahrens zu erreichen.