Die Digitalisierung wird geschätzt – die wirtschaftlichen Kennzahlen werden vernachlässigt

Das Institut für Freie Berufe Nürnberg hat unter dem Titel „Anwaltschaft 4.0 – Lage und Entwicklung“ untersucht, wie die Anwaltschaft angesichts der zunehmenden Digitalisierung, der wachsenden Spezialisierung, der Anforderungen an das Kanzleimanagement und angesichts des veränderten Mandantenverhaltens ihren praktischen Alltag jetzt und in Zukunft bewältigt. Der Selbsthilfe der Rechtsanwälte e.V. hat dazu den Auftrag erteilt. Die Untersuchung, für die insgesamt 782 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, auch aus Berlin, einen ausführlichen Fragebogen beantworteten, wurde Mitte 2021 durchgeführt.

Nicole Genitheim

Fragen zu den Umfrageergebnissen und zum Untersuchungsergebnis an Frau Nicole Genitheim, Leiterin Forschungsbereich Freie Berufe des Instituts für Freie Berufe:


Frau Genitheim, mit Ihrer empirischen Untersuchung wollten Sie herausfinden, wie Anwältinnen und Anwälte derzeit und in absehbarer Zukunft unter den sich wandelnden Bedingungen den Anwaltsberuf ausüben. Warum sind die Fragen an die Teilnehmer nur auf die gegenwärtige Situation ausgerichtet?

Tatsächlich wollten wir vor allem den jetzigen Ist-Zustand abbilden und mit etwas zeitlichem Abstand können dann Teile der Fragen erneut erhoben und somit Entwicklungen abgebildet werden. Fragen, die sich auf die Zukunft beziehen sind für die Befragten meist sehr schwer zu beantworten – gerade mit der Erfahrung der letzten zwei Jahre würde ich sagen, wer weiß schon, was in einem halben Jahr kommt und auf welche Situationen wir uns dann einstellen müssen.

Welche Veränderungen schätzen die Kolleginnen und Kollegen, welche weniger?

Insgesamt scheinen die befragten BerufsträgerInnen  die zunehmende Digitalisierung positiv zu sehen. So wird die vermehrte Nutzung von Legal Tech Angeboten von knapp 50 Prozent der Befragten als positiv eingestuft. Vor allem die Zeitersparnis und Effizienzsteigerung sind hier Punkte, die Anklang finden. Auch die grundlegende Idee des beA – hier möchte ich die Betonung auf das Wort ‚Idee‘ legen – wird als gut eingestuft, genau wie die zunehmend digitaler werdende Kommunikation, auch dies findet unter den Befragten Anklang.

Natürlich gibt es zu den genannten positiven Aspekten auch Schattenseiten. Beispielsweise wird die Umsetzung des beA stark kritisiert. Fehlende Benutzerfreundlichkeit und technische Probleme sind dabei nur zwei der kritisierten Aspekte. In Sachen Legal Tech Anwendungen werden als Minuspunkt vor allem die oftmals fehlende Individualität und Fragen im Bereich des Datenschutzes genannt.

Auf welche Veränderungen ist die Anwaltschaft gut vorbereitet und wird damit auch in Zukunft wahrscheinlich klarkommen?

Hier ist klar das Thema Digitalisierung zu nennen. Die Anwaltschaft wird zusehends digitaler, das zeigt sich schon heute in der immer weiter fortschreitenden Nutzung von Legal Tech Angeboten. Auch sind die BerufsträgerInnen durchaus offen für Fortbildungen in diesem Bereich: etwa 72% unserer Befragten geben bei der Frage nach interessanten Fortbildungsthemen Aspekte an, die sich im Bereich der Digitalisierung und Legal Tech verorten lassen. Hier sehe ich auch zukünftig keine Probleme.

In welchen Bereichen sieht es schlechter aus?

Überraschenderweise scheint es, als ob sich die Befragten eher wenig mit den wirtschaftlichen Kennzahlen ihrer Kanzleien auseinandersetzen. Die Themen Umsatz und offene Forderungen werden zwar betrachtet, aber es wird kaum mit anderen betriebswirtschaftlichen Werten gearbeitet. Dementsprechend beschäftigen sich auch nur etwa 60% der Befragten mit einer Kosten-Nutzen Optimierung innerhalb der Kanzlei. Hier scheint Nachholbedarf zu bestehen, allerdings muss auch bedacht werden, dass eine detaillierte Finanzanalyse zwar Nutzen bringt, aber auch Zeit kostet. Zeit, die unter Umständen nicht vorhanden ist.

Gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Kolleginnen und Kollegen?

Wir sehen auch hier zum einen die üblichen strukturellen Unterschiede, die in fast jeder Befragung der Anwaltschaft deutlich werden: Befragte Anwältinnen sind im Schnitt etwas jünger und häufiger angestellt tätig.

Interessant ist hier, dass Frauen deutlich häufiger angeben, mittels RVG abzurechnen (73% der Befragten) während Männer dies seltener nennen (63%). Deutliche Unterschiede zeigen sich auch beim Thema nicht korrekte Onlinebewertungen (sog. Fake Bewertungen). Hier geben Männer an, sich in 35% der Fälle nicht erfolgreich gegen solche Bewertungen zur Wehr gesetzt zu haben. Bei Frauen beträgt dieser Wert 55%. Auch im Bereich der Fortbildungen wünschen sich Frauen häufiger andere Angebote als die bisher angebotenen, wobei Männer hier vermehrt mit dem bestehenden Möglichkeiten zufrieden sind.

Nach Ihren Ergebnissen haben die unter 35-Jährigen seltener eine Kanzleihomepage mit Kontaktformular als ältere Kammermitglieder, nutzen dafür berufliche Netzwerke wie Xing am häufigsten. Auffällig ist auch, dass Jüngere bei der Mandatsabrechnung öfter Vergütungsvereinbarungen nutzen und nicht nach RVG abrechnen. Sind die jüngeren Kolleginnen und Kollegen gut auf die Zukunft vorbereitet?

Tatsächlich sind soziale Netzwerke wie z.B. Xing unter jüngeren Berufsträgern häufiger ein Thema. Dies ist mit Sicherheit dem Alter der Befragten (hier die unter 35-Jährigen) geschuldet, da soziale Netzwerke hier privat wie beruflich ein größeres und vor allem sichtbareres Thema sein dürften. Ob nach RVG abgerechnet wird mag auch mit den Gepflogenheiten der Kanzlei zusammenhängen – gerade junge Berufsträger sind nicht zwangsweise im Bereich des selbstständigen Einzelanwalts zu verorten. Unabhängig davon denke ich, dass die jungen KollegInnen durchaus gut auf die Zukunft vorbereitet sind. So nehmen die unter 35-Jährigen regelmäßig an diversen Fortbildungen teil und scheinen technik- und digitalaffin zu sein, also keine schlechten Voraussetzungen, um in einem wandelnden Berufsfeld zu bestehen.

In der Anwaltschaft gibt es seit Jahren einen Trend hin zu wachsender Spezialisierung der Berufsträger. Welche Gründe sehen Sie hierfür und in welchen Rechtsgebieten spezialisieren sich die Kollegen und Kolleginnen besonders häufig?

In der Tat wächst der Anteil der spezialisierten Anwälte und Anwältinnen. Unsere Ergebnisse decken sich hier grundlegend mit den Befunden der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK), die seit 1960 einen Anstieg der Fachanwaltschaften dokumentieren. Etwa 40 % der befragten Berufsträger verfügten über mindestens einen Fachanwaltstitel. Dagegen waren lediglich 28 % Generalisten, also weder auf ein Rechtsgebiet spezialisiert noch Fachanwalt. Der Trend zur beruflichen Spezialisierung zeigt sich auch im allgemeinen Arbeitsmarkt, daher stellt die Anwaltschaft hier keine Ausnahme dar. Allerdings sind natürlich nicht alle Fachrichtungen gleichmäßig verteilt. Am häufigsten finden sich in unserer Untersuchung Fachanwälte für Familienrecht, knapp gefolgt von Fachanwälten für Arbeitsrecht. Fast jeder vierte gab hier an, einen Fachanwaltstitel zu besitzen. Betrachtet man dagegen die Verteilung der Spezialisten und Fachanwälte nach Rechtsgebieten zusammen als eine Gruppe, dreht sich dieses Verhältnis um. An erster Stelle kommt dann das Arbeitsrecht, auf das jeder vierte Rechtsanwalt, der kein Generalist ist, spezialisiert ist. Hierauf folgt das Familienrecht, das von jedem fünften Spezialisten / Fachanwalt genannt wird.

Auch die Fachanwaltsstatistik der BRAK zeigt hier ein ähnliches Bild: Arbeits- und Familienrecht sind die beiden Rechtsgebiete, in denen am häufigsten ein Fachanwaltstitel geführt wird.

In Ihrer Erhebung konnten Sie außerdem feststellen, dass sich das Verhalten der Mandanten und Mandantinnen verändert hat. Welche Entwicklungen lassen sich hier konkret festhalten?

Zum einen hat sich in den letzten 5 Jahren das Anspruchsverhalten der Mandanten und Mandantinnen verändert. Der Serviceanspruch ist beispielsweise gestiegen: Es wird von den Berufsträgern erwartet, dass sie jederzeit erreichbar sind, Anliegen schnell bearbeiten und die Betreuung qualitativ hochwertig ist. Dabei sollen sie aber auch grundlegend flexibel sein. Viele Befragte berichten auf der anderen Seite aber auch von Forderungen nach kostengünstigen Dienstleistungsangeboten und einer sinkenden Zahlungsbereitschaft. Hier lässt sich also durchaus ein Spannungsfeld feststellen. Die Kommunikationswege der Mandantinnen und Mandanten haben sich ebenfalls in vielen Fällen verändert. Austausch findet heutzutage vermehrt über digitale Wege statt, beispielsweise über E-Mail oder per Videokonferenz.

Ergibt sich aus Ihren Untersuchungen ein Rat an die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, wie sie sich besser auf die Zukunft vorbereiten können?

Selbstredend bleibt es wohl weiterhin ein zentrales Thema, die Kanzlei und sich selbst digital gut aufzustellen. Die monetären aber auch zeitlichen Investitionen in Technik und vor allem in strukturierte Prozesse zahlen sich längerfristig aus. Und ein weiteres Anliegen an die Anwaltschaft ist: Nutzen Sie gängige Kennzahlen für die Bestimmung Ihrer wirtschaftlichen Lage und Ihres Kanzleimanagements. Natürlich bedeutet auch das zu Beginn einen gewissen Aufwand, aber wenn die Prozesse einmal implementiert sind, können Sie schnell und unkompliziert einen Überblick über den aktuellen Stand Ihrer Kanzlei gewinnen.

 

 

Kammerton 06-2022