In einem war sich das Podium bei der Veranstaltung zur Armutsbestrafung am 25. April 2022 einig: Das neue Buch von Dr. Ronen Steinke „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich: Die neue Klassenjustiz“ stelle eine sehr gute Analyse dar. Auf dem Podium neben Dr. Ronen Steinke, Redakteur der Süddeutschen Zeitung: Prof. Dr. Lena Kreck, Senatorin für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung, Prof. Dr. Christine Graebsch von der FH Dortmund und als Moderatorin RAin Franziska Nedelmann, stellvertretende Vorsitzende des RAV. Eingeladen hatten die Strafverteidigervereinigungen aus Berlin und aus Baden-Württemberg, die AG Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen, der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) und die RAK Berlin.
„Das Buch hat einen Nerv getroffen“, so Dr. Vera Hofmann, Vizepräsidentin der Rechtsanwaltskammer Berlin, in ihrem Grußwort zu Beginn der Veranstaltung. Die Frage an das Podium sei, ob die Justiz tatsächlich Begüterte begünstige und diejenigen benachteilige, die nichts haben. Sie betonte, dass sich die Rechtsanwaltskammer mit einigen der von Steinke aufgeworfenen Themen schon befasst habe. So habe die Kammer damals vorgeschlagen, dass die Gerichte die Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidiger nach einer verbindlichen Liste beiordnen müssten und so sich den „Sparringpartner“ nicht mehr selbst aussuchen dürfen. Der Gesetzgeber habe dies zwar leider anders entschieden, aber die RAK habe auf ihrer Webseite eine Liste mit Suchfunktion eingerichtet, die den Gerichten zumindest eine qualifizierte Auswahl von Pflichtverteidigerinnen und –verteidigern erlaube.
Wie er auf das Thema seines Buches gestoßen sei, das schilderte Dr. Ronen Steinke am Anfang seines Vortrags. Nachdem er wie viele andere Journalistinnen und Journalisten zuvor vor allem von den großen Strafprozessen berichtet habe, sei er ins Alltagsgeschäft, zu den kleineren Strafverfahren gewechselt. Häufig würden sich die Angeklagten hier selbst verteidigen und sich, oft ahnungslos, immer wieder um Kopf und Kragen reden. Rechtsanwälte ahnten manchmal gar nicht, wie wichtig sie seien. In vielen Nachbarländern staune man, dass in Deutschland die anwaltliche Verteidigung nicht in jedem Strafprozess von Anfang an gewährleistet sei. Immer stärker stelle sich dieses Problem, so auch beim Strafbefehlsverfahren, in dem viele Beschuldigte auf die eingehende Post nicht reagieren würden.
Steinke las im Anschluss einen Ausschnitt aus seinem Buch über die Situation in der JVA Plötzensee vor und nahm dies zum Anlass für scharfe Kritik an der Ersatzfreiheitsstrafe, der inzwischen häufigsten Haftstrafe. Viele kämen immer wieder, seien bereits verschuldet und kämen nicht aus der Armutsspirale heraus.
Prof. Dr. Christine Graebsch, Professorin an der FH Dortmund, vertrat die Auffassung, die Justiz blende die Armut aus. Stets werde verlangt, die Verantwortung zu übernehmen – dadurch werde die Armut wegkonstruiert. Scharf kritisierte sie die Tagessatzhöhe bei ALG-II-Beziehern, da dadurch das Existenzminimum nicht mehr zur Verfügung stehe.
Prof. Dr. Lena Kreck, seit Dezember 2021 Senatorin für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung, machte deutlich, dass sie sich zwar der bisherigen Analyse auf dem Podium weitgehend anschließe, sie sich aber als Senatorin auf realistische Schritte beschränken wolle. Die Armutsquote in Berlin sei sehr hoch und die hohe Zahl von jährlich 400.000 Verfahren der Amtsanwaltschaft führe zu einer Bearbeitungszeit von 8 Minuten pro Fall. Das Personal sei also dringend aufzustocken. In Berlin sei es inzwischen leichter geworden, die Ersatzfreiheitsstrafe durch das Abarbeiten der Tagessätze zu vermeiden, da pro Tag hier nur noch 4 Stunden abgeleistet werden müssten. Allerdings wisse sie, dass viele diese Arbeit auch nicht leisten könnten. Zudem sprach sie sich dafür aus, in Zukunft mehr Gnadenentscheidungen zu treffen.
Die Justiz könne allerdings keine sozialen Probleme lösen. Außerdem stoße man auf Landesebene an Grenzen. Am wichtigsten sei es, durch politische Arbeit zu erreichen, dass auf Bundesebene die Ersatzfreiheitsstrafe, die nicht tat- und schuldangemessen sei, abzuschaffen und zur Entkriminalisierung etwa durch die Abschaffung der Beförderungserschleichung beizutragen. Zudem sprach sie sich dafür aus, die Höhe der Tagessätze nachträglich reduzieren zu können.
Aus dem Publikum kam der Vorschlag an die Senatorin, durch Weisungen die Tagessätze von vorneherein zu senken. Prof. Kreck merkte an, dass sie schon den Vorschlag, durch Weisungen auf die Aktionen der Klimaaktivistinnen und – aktivisten, die sich auf den Stadtautobahnen festgeklebt hatten, schnell zu reagieren, abgelehnt habe, da sie den Rechtsstaat und ausreichende Ermittlungen sicherstellen wolle. Aus dem Publikum folgte daraufhin die Anregung, statt Weisungen Informationsschreiben zu verschicken.
Auf den Einwand von Ronen Steinke, dass in der JVA Plötzensee viele Demente landeten und kein Rechtspfleger offenbar zuvor nachgefragt habe, warum z.B. eingehende Post nicht beantwortet worden sei, erwiderte die Senatorin mit einem Hinweis auf den Zeitmangel bei der Amtsanwaltschaft. Sie wende sich gegen undifferenzierte Kritik.
Rechtsanwalt Stephan Schneider, Vorstandsmitglied der RAK Berlin und Vorstandsmitglied der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V., kritisierte, dass die „unverzügliche Beiordnung“ in Berlin nach der Antragstellung 6 -9 Monate lang dauere. Der Vorschlag eines Staatsanwalts aus dem Publikum, Ladendiebstahl zu entkriminalisieren und nicht mehr strafrechtlich zu sanktionieren, fand Zustimmung auf dem Podium. Ob eine solche Änderung neue Probleme schaffe, wurde nicht diskutiert.
Wie ein Resumé der Veranstaltung konnte die Forderung der Senatorin verstanden werden, dass das Strafrecht nicht dazu genutzt werden dürfe, Arme auszugrenzen.
Das Interesse an der Veranstaltung war groß: 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen in Präsenz im Bonhoeffer-Haus in Berlin-Mitte und mehr als 50 online teil.