Intensive Rechtsberatung für Geflüchtete aus der Ukraine

Seit Kriegsbeginn leisten Rechtsanwältin Maria Derra und Rechtsanwalt Aleksej Ermolenko in großem Umfang Rechtsberatung in Berlin für Geflüchtete aus der Ukraine. RAin Derra hat bis zu ihrem Jurastudium in Russland gelebt; RA Ermolenko ist mit sechs Jahren aus der Ukraine nach Berlin gekommen. Beide arbeiten in Berlin zusammen in der KAYP Rechtsanwaltsgesellschaft mbH. Der Kammerton hat sie interviewt.

 

Frau Kollegin Derra, Sie sind in Tscherepowez in Russland geboren; Herr Kollege Ermolenko, Sie sind in Charkiw in der Ukraine geboren: Wie stark ist heute Ihre Bindung dorthin und welche Auswirkung hat darauf der Krieg?

Rechtsanwältin Maria Derra

Maria Derra: Ich bin in Russland aufgewachsen und habe in Sankt Petersburg mein Lehramtsstudium abgeschlossen, bevor ich 2004 zum Jurastudium nach Deutschland kam. Meine Eltern, meine Verwandte, meine Schul- und Studienfreunde leben alle in Russland. Ich bin auch unter den russischen Kolleginnen und Kollegen sehr gut vernetzt und habe viele Mandanten mit (Wohn-) Sitz in Russland.

 

„Besonders schmerzhaft ist für mich der Gedanke, dass ich meine siebzigjährigen Eltern nicht mehr besuchen kann.“

 

Vor dem 24.02.2022 war ich regelmäßig, d.h. mindestens einmal im Monat in Moskau, aber auch in anderen russischen Städten geschäftlich unterwegs. Ich traf mich mit meinen Mandanten, nahm an zahlreichen Konferenzen, Tagungen, Foren für Juristen teil, hielt Vorträge an juristischen Fakultäten russischer Universitäten, engagierte mich stark für die Popularisierung des deutschen Rechts in Russland, indem ich als Mitglied der Deutsch-Russischen Juristenvereinigung e.V. Webinare organisierte und durchführte, Beiträge zu Fragen des deutschen Rechts in russischer Sprache verfasste und mich als Co-Redakteurin bei der Veröffentlichung von vier  Sammelbänden zum deutschen Recht in russischer Sprache einsetzte. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine ist nun Schluss damit.

Besonders schmerzhaft ist für mich der Gedanke, dass ich meine siebzigjährigen Eltern nicht mehr besuchen kann. Und ich weiß nicht einmal, ob und ggfls. wann ich sie wieder sehen und umarmen werde, denn für meine aktive Unterstützung ukrainischer Flüchtlinge hier in Deutschland, meine klare Positionierung und scharfe Verurteilung des Krieges drohen mir in meiner Heimat bis zu 15 Jahre Haft.

Aleksej Ermolenko: Zum besseren Verständnis meiner persönlichen Bindung zur Ukraine, möchte ich kurz meine Immigration aus der Ukraine nach Deutschland umreißen.

Rechtsanwalt Aleksej Ermolenko

Meine Familie immigrierte 1991 nach Deutschland, Berlin, aus der nun aufgrund der jüngsten dramatischen Ereignisse aus den Medien bekannt gewordenen Stadt Charkiw. Charkiw liegt unweit der russischen Grenze in ca. 60 km Entfernung und ist eine der mit am stärksten von den russischen Kriegsbewegungen betroffene Stadt. Viele der Wahrzeichen Charkiws, welche meine Eltern als Sinnbild ihrer Heimat kannten, sind mittlerweile von den Bombenangriffen zerstört.

Als ich 1991 nach Deutschland kam, war ich sechs Jahre alt, mein jüngerer Bruder gerade mal ein halbes Jahr alt. Wenn ich in meiner Kindheit und Jugend gefragt wurde, woher ich komme, da hatte ich mich sehr schwergetan, die passende Antwort zu finden. Ich verstand damals noch nicht so recht, dass es nach dem Zerfall der Sowjetunion nunmehr eine klare Unterscheidung zwischen Ukrainern und Russen geben sollte.

Die Stadt Charkiw, war aufgrund ihrer geographischen Lage, insbesondere der Nähe zur russischen Grenze, lange Zeit und wohl auch noch bis zu den jüngsten Ereignissen eine doch sehr russisch geprägte Stadt, in der überwiegend Russisch gesprochen wurde. In den ersten 6 Jahren meines Lebens in der Ukraine, wuchs ich nur russischsprachig auf. Zu Hause wurde bei uns nur Russisch gesprochen und Ukrainisch haben meine Eltern zwar als zweite Muttersprache in der Schule gelernt. Weil ich jedoch ab der ersten Klasse bereits in Berlin lebte, blieb bis heute Russisch meine Muttersprache.

Aufgrund dieser Vermischungen und Überlappungen fühlte ich mich lange Zeit in Deutschland irgendwie sowohl deutsch, ukrainisch als auch russisch. Viele meiner Kindheitsfreunde, mit denen ich bis heute in einem sehr engen freundschaftlichen Verhältnis bin, sind Immigranten sowohl mit ukrainischen als auch russischen Wurzeln.

 

„Ich entschied mich jedoch, soweit wie möglich nicht von negativen Hassgefühlen anstecken zu lassen.“

 

Der Russland-Ukraine Konflikt, der jetzt in den Medien so vorherrschend ist und immer weitere düstere Dimensionen annimmt, baut leider eine stark fühlbare Mauer zwischen Ukrainern und Russen auf. Diese Mauer ist geprägt aus Gefühlen der Enttäuschung, Unverständnis und damit einhergehender immer weiter zunehmender emotionaler Distanz. Dieses Gefühl der Abtrennung von einander steckt leider immer mehr Menschen an und zwar auf beiden Seiten.

Aus der russisch-sprachigen Community (zu denen ich sowohl Immigranten mit ukrainischen als auch russischen Wurzeln zähle) kenne ich eine große Anzahl an nahestehenden Personen und sogar Familienangehörigen, die sich von dieser emotionalen Flut an feindseligen Gefühlen haben mitreißen lassen, mit der Folge des gänzlichen Kontaktabbruchs zueinander.

Ich entschied mich jedoch soweit wie möglich nicht von negativen Hassgefühlen anstecken zu lassen. Ich will so weit wie möglich den Weg der Kommunikation und des Mitgefühls mit denjenigen gehen, welche sich gemeinsam gegen den Krieg aussprechen und sich von der aggressiven und menschenverachtenden Haltung der russischen Regierung distanzieren.

Es gibt sehr viele unschuldige und friedliche Menschen in der russischen Bevölkerung, welche aus meiner Sicht unfreiwillig unschuldige Geiseln ihres Staatsoberhauptes wurden, fast sogar machtlos und gefangen in der neuen schrecklichen Realität Russlands aufwachten und die sich persönlich gegen den russischen Kriegskurs für die Opfer in der Ukraine und für die Demokratie aussprechen.

 

Seit wann leben und arbeiten Sie in Deutschland?

Derra: 2004 habe ich mein Jurastudium an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg aufgenommen, seit 2012 bin ich als Rechtsanwältin tätig, zunächst in München, seit 2020 in Berlin. Ich bin nach Deutschland gekommen, um meinen Teenager-Traum zu erfüllen. Ich habe nämlich bereits mit 14 Jahren beschlossen, dass ich Rechtsanwältin in Deutschland werden möchte. Im Rahmen eines vierwöchigen Schüleraustausches besuchte ich ein Gymnasium in Koblenz und fand den Rechtskundeunterricht so faszinierend, dass für mich seitdem feststand, was mein künftiger Beruf sein wird. Mein erstes Studium in Sankt Petersburg (es war Lehramt Deutsch und Englisch) war somit nur ein Mittel zum Zweck: Mir war bewusst, dass ich sehr gute Deutschkenntnisse brauche, um Jura in Deutschland zu studieren.

Ermolenko: Ich lebe seit 1991 in Deutschland. Ich wuchs in Berlin auf und zog 2004 studienbedingt zunächst nach Bielefeld und dann nach München. Mein Jurastudium absolvierte ich in München an der Ludwig-Maximilian-Universität. Nach erfolgreichem Abschluss meines Zweiten Staatsexamens in München zog ich schließlich zurück nach Berlin. Hier fühlte ich mich nach wie vor zu Hause, arbeitete zunächst als Rechtsanwalt in einer Kanzlei für Kapitalmarkt- und Bankenrecht und machte mich dann bald selbstständig als Rechtsanwalt. Ich gründete 2018 die Anwaltskanzlei Ermolenko und 2020 die KAYP Rechtsanwaltsgesellschaft mbH.

 

In welchem Umfang leisten Sie Rechtsberatung für Geflüchtete aus der Ukraine seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar 2022?

Ermolenko: In gemeinsamer Zusammenarbeit mit Frau Rechtsanwältin Maria Derra und Kooperation mit weiteren Kolleginnen und Kollegen bieten wir Rechtsberatung für ukrainische Kriegsflüchtlinge in folgenden Rechtsgebieten an: Migrationsrecht, Sozialrecht, Mietrecht, Arbeitsrecht, Verkehrsrecht, Immobilienrecht und Gesellschaftsrecht

Derra: Am 26.02.2022 habe ich über meine Facebook-Seite meine Visitenkarte geteilt und allen Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland fliehen, meine anwaltliche Unterstützung und Hilfe angeboten. Danach klingelte mein Handy ununterbrochen.

 

„Im März waren wir sieben Tage die Woche im Büro.“

 

Die Anzahl der eingegangenen Nachrichten bzw. entgangenen Anrufe über verschiedene Messenger innerhalb der ersten 24 Stunden nach diesem Post auf Facebook hat mich schwer beeindruckt: Es waren mindestens 500.

In unserer Kanzlei haben wir ein gesondertes E-Mail-Postfach sowie eine gesonderte Telefonhotline für ukrainische Flüchtlinge eingerichtet. In den ersten 3-4 Wochen nach dem Kriegsbeginn gab es solche Tage, an denen wir fast ausschließlich damit beschäftigt waren, Rat suchende Menschen telefonisch zu unterstützen. Zwischen den Telefonaten beantworteten wir die zahlreichen E-Mails. Und das taten wir auch am Wochenende. Im März waren wir sieben Tage die Woche im Büro.

Mittlerweile ist es etwas ruhiger geworden. Allgemeine Informationen für Flüchtlinge aus der Ukraine haben wir auf unserer Homepage veröffentlicht und aktualisieren diese ständig.

 

Welche Fragen stehen bei dieser Rechtsberatung im Mittelpunkt?

Ermolenko: Nachdem nunmehr Klarheit über den aufenthaltsrechtlichen Status der ukrainischen Flüchtlinge herrscht, wenden sich die Menschen immer mehr mit ganz „normalen“ Fragen an uns: Was sollte man beim Abschluss eines Mietvertrages oder eines Arbeitsvertrages beachten, was braucht man zur Gründung einer Firma, wie meldet man sich als Einzelunternehmer an, was tut man nach einem Kfz-Unfall, wie fordert man Kindesunterhalt etc.

Derra: Aber es herrscht weiterhin etwas Unsicherheit bei Fragen, wie:

– Dürfen Kriegsflüchtlinge, die bereits einen Aufenthaltstitel nach § 24 AufenthG erhalten haben, zurück in die Ukraine reisen, z.B. um zurückgelassenes Eigentum zu holen, jemanden zu besuchen?

– Erhält man weiter Sozialleistungen, wenn man eine Arbeit aufnimmt?

– Darf man sein eigenes Geld behalten, wenn man Sozialleistungen beantragt?

– Darf man den Wohnort in Deutschland wechseln, wenn man bereits als Kriegsflüchtling mit einer Wohnsitzauflage registriert ist?

 

Wie geht es zur Zeit den Kolleginnen und Kollegen in Ukraine?

Derra: Ganz unterschiedlich. Zu Kolleginnen und Kollegen z.B. aus Mariupol habe ich leider keinen Kontakt mehr. Ich weiß nicht, wie es ihnen geht, ob sie noch in der Stadt und am Leben sind. Kolleginnen und Kollegen in der Westukraine (z.B. Lwiw, Iwano-Frankiwsk, Ternopil, Transkarpatien) sind dort geblieben und gehen ihrer Arbeit weiterhin nach, soweit ich weiß. Viele Kolleginnen und Kollegen aus der Ostukraine (z.B. Charkiw, Dnipro, Luhansk, Donezk) sind dagegen geflohen. Die meisten von ihnen kannte ich nicht einmal persönlich, wir waren lediglich auf Facebook „befreundet“.

Seit dem Kriegsbeginn habe ich mit vielen von ihnen jedoch so oft geschrieben und telefoniert, dass ich mittlerweile ihre Lebensgeschichte sowie ihren langen Weg nach Deutschland kenne und weiß, wo sie sich letztendlich niedergelassen haben, wie es ihnen geht, welche Schulen ihre Kinder besuchen und was sie selbst für Pläne für ihr neues Leben in Deutschland haben. Wir sind ständig im Kontakt.

 

„Die meisten Kolleginnen und Kollegen möchten weiter in ihrem Beruf arbeiten.“


Welche Möglichkeiten nutzen diese Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie nach Deutschland kommen?

Derra: Die meisten Kolleginnen und Kollegen möchten weiter in ihrem Beruf arbeiten, was absolut nachvollziehbar ist: Sie waren erfolgreiche Anwältinnen und Anwälte in der Ukraine, führten jahrelang ihre Kanzleien, oft an mehreren Standorten und mit vielen Mitarbeitern. Sie verstehen jedoch, dass die Berufsausübung in Deutschland beinahe unmöglich ist. Viele sprechen kein Deutsch und niemand verfügt über Kenntnisse der deutschen Rechtsordnung.

Mit Begeisterung und sehr viel Dankbarkeit haben ukrainische Kolleginnen und Kollegen auf die von der Rechtsanwaltskammer Berlin zur Verfügung gestellte Plattform „Jobs for Ukrainian Refugees“ reagiert. Ich erhielt Nachrichten von vielen Kolleginnen und Kollegen nicht aus Berlin mit der Frage, ob auch andere Rechtsanwaltskammern ähnliche Seiten anbieten. Die Idee einer solchen Jobbörse und vor allem die hinter dieser Idee stehende Hilfsbereitschaft deutscher Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte kam sehr gut an.

Wir führen derzeit mit einer Kollegin aus Odessa sehr konstruktive und vielversprechende Gespräche über mögliche Zusammenarbeit.

 

Welche Unterstützung können ihnen die Berliner Kolleginnen und Kollegen leisten?

Derra:  Bei den meisten ukrainischen Kolleginnen und Kollegen herrscht Unsicherheit betreffend ihre beruflichen Möglichkeiten in Deutschland. Manche hoffen, dass sie ihren ukrainischen Abschluss doch noch irgendwie anerkennen lassen können. Andere trauen sich nicht, sich an deutsche Kolleginnen und Kollegen zu wenden, da sie kein Deutsch sprechen und sich unsicher fühlen. Informationen im Internet oder auf einer Veranstaltung, die deutlich machen, was man darf und was man nicht darf, würde meines Erachtens vielen ukrainischen Kolleginnen und Kollegen helfen, Klarheit darüber zu bekommen, welche Möglichkeiten ihnen in Deutschland offenstehen, was realistisch ist und was sie tun müssen, um rechtmäßig ihren Job weiter auszuüben.

 

„Wenn also Berliner Kollegen und Kolleginnen kostenlos Arbeitsplätze anbieten könnten, dann wäre dies schon mal ein hilfreicher Weg.“

 

Ermolenko: Wir sprachen inzwischen mit mehreren ukrainischen Kolleginnen und Kollegen darüber, wie wir helfen könnten, und wir bereiten derzeit ein gemeinsames Beratungskonzept vor. Unsere nach Deutschland geflüchteten ukrainischen Kolleginnen und Kollegen könnten den hier ebenfalls angekommenen Kriegsflüchtlingen bei der Regelung ihrer Rechtsverhältnisse in der Ukraine auch aus Deutschland helfen.

Wenn also Berliner Kollegen und Kolleginnen kostenlos Arbeitsplätze anbieten könnten, dann wäre dies schon mal ein hilfreicher Weg.

 

Welche Befürchtungen und welche Hoffnungen haben Sie?

Derra: Meine größte Befürchtung ist, dass der Krieg noch länger dauern wird und es nicht absehbar ist, wann und mit welchen Folgen er für das ukrainische Volk, aber auch für die ganze Welt endet. Meine größte Hoffnung ist daher, dass das grausame Sterben der Menschen in der Ukraine schnellstmöglich aufhört. Das ist momentan das Allerwichtigste für mich. Was mein Heimatland anbelangt, so habe ich keine Illusionen mehr. Putin hat Russland 30 bis 40 Jahre zurückgeworfen und in die weltweite Isolation gebracht. Er hat sein eigenes Land in den Ruin getrieben. Und mich, deutsche Rechtsanwältin mit russischem Pass und ukrainischem Herzen seit dem 24.02.2022 hat er heimatlos gemacht.

Ermolenko: Meine Befürchtungen decken sich sehr mit denen meiner Kollegin Derra. Ich fürchte, dass die emotionale Kluft zwischen Ukrainern und Russen, sowohl in Deutschland als auch in allen anderen Teilen dieser Welt immer größer wird und dass sich diese einst so nahestehenden Menschen über viele Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, nicht mehr friedlich und freundschaftlich werden begegnen können. Ich hoffe dennoch, dass die Menschen in Russland sich mit der Zeit einig gegen das Regime in ihrem Land aussprechen werden und die Demokratie auch in Russland auflebt.

________________________

 

Zu den Job-Angeboten für Geflüchtete aus der Ukraine

 

Kammerton 05-2022