Rechtsnihilismus und Kämpfe der Anwaltschaft unter Putin

Von Lyudmila Aleksandrova

Meine Arbeit als Anwältin begann 2007. In den letzten 15 Jahren hat sich in Russland und in der Welt Vieles verändert, auch die Institution der russischen Anwaltschaft. In diesem Artikel möchte ich als Insiderin meinen Kolleg*innen in Deutschland und der Jurist*innengemeinschaft meine persönliche, subjektive Sicht der Dinge über die aktuelle Lage in Russland darlegen.

Zu Beginn dieses Artikels habe ich mir überlegt, wie man den aktuellen Zustand der russischen Anwaltschaft definieren könnte. Die Antwort liegt auf der Hand: Die russische Anwaltschaft befindet sich in demselben Zustand wie das ganze Land, heute in einem beklagenswerten Zustand und morgen in einem Zustand ohne Zukunft!

 

Gleichzeitig hat der Prozess der Zerstörung der Anwaltschaft in ihrer Eigenschaft als eine Menschenrechtsinstitution schon vor langer Zeit begonnen, und zwar praktisch seitdem sie rechtlich Gestalt einnahm. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat diesen Prozess nur beschleunigt. Seit der Schaffung des rechtlichen Rahmens für die russische Anwaltschaft war das Föderale Gesetz »Über die Tätigkeit von Rechtsanwält*innen und die Anwaltschaft in der Russischen Föderation« vom 31. Mai 2002 rein formaler Natur und schuf keine Rechtsgrundlage für die Einrichtung einer unabhängigen russischen Anwaltschaft im Justizsystem, wie sie in Europa und den Vereinigten Staaten existiert. Das russische Gesetz führte Normen ein, die die Befugnisse der Anwält*innen einschränkten und die Stellung der Anwaltschaft in der Gesellschaft begrenzten.

 

ENTRECHTUNG DER ANWALTSCHAFT

Das Föderale Gesetz ist zur Achillesferse der russischen Anwaltschaft geworden. Erstens wurde der Status des Rechtsanwalts auf die Stellung eines ›unabhängigen Rechtsberaters‹ beschränkt (Artikel 2). Im Vergleich dazu ist der Rechtsanwalt in Deutschland »ein unabhängiges Organ der Rechtspflege« (§ 1 der Bundesrechtsanwaltsordnung). Im Verhältnis zum Staat befindet sich die russische Anwaltschaft von dem Moment an, da der rechtliche Rahmen geschaffen wurde, in einer Situation, in der sie kein staatliches Organ ist und von öffentlichen Institutionen nicht unterstützt wird. Das Gesetz legt die Befugnisse der russischen Rechtsanwält*innen nicht fest, sondern erklärt lediglich, dass die Befugnisse eines Anwalts/einer Anwältin durch die Verfahrensgesetzgebung der Russischen Föderation bestimmt werden (Artikel 6).

Da sich die Zivilgesellschaft in Russland in den zwanzig Jahren seit der Verabschiedung des Gesetzes nie entwickelt hat, befindet sich die moderne russische Anwaltschaft als Institution von etwas, das nicht in Großstädten und auch nicht durch eine sich aktiv entwickelnden internationale Zusammenarbeit entstanden ist. Anwält*innen wurden nicht nur zu Rechtsberater*innen, sondern auch zu einer Kraft, die sich dem Staat entgegenstellen konnte. Russische Anwält*innen haben die Rechte ihrer Mandant*innen erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschen- rechte (EGMR) verteidigt. In den letzten Jahren hat Russland bei den Beschwerden vor diesem Gerichtshof eine führende Rolle gespielt. Auch bei der Zahl der verlorenen Verfahren nimmt Russland einen Spitzenplatz ein, was sich unter anderem an der Qualität der beim EGMR eingereichten Beschwerden zeigt, die zumeist von russischen Anwälten verfasst wurden.

 

DIE ROLLE DER SOLIDARITÄT

Eines der Kriterien für die Entwicklung der Anwaltschaft war die Bildung der Solidarität unter den Rechtsanwält*innen, die Schaffung von Anwaltsgemeinschaften zum Schutz der Rechte der Rechtsanwält*innen. Im Jahr 2017 schlossen sich Anwält*innen aus verschiedenen Regionen im Prager Klub der russischen Anwälte zusammen, der zu einer der führenden Plattformen wurde, um das Projekt der Demokratisierung des Anwaltsberufs voranzutreiben und sich dem autoritären Managementregime im Anwaltsberuf und der Kontrolle des Anwaltsberufs durch die Behörden entgegenzustellen. Die Treffen des Prager Klubs der russischen Anwälte fanden in verschiedenen Regionen Russlands statt. An ihnen nahmen sowohl prominente russische Jurist*innen als auch einfache Mitglieder der Gemeinschaft teil. Die Teilnehmer der Prager Klubsitzungen diskutierten offen, kreativ und sachkundig über aktuelle Fragen der Anwaltschaft und deren Beziehungen zu den Behörden, erarbeiteten Beschlussvorlagen, von denen einige in die Schlussdokumente des Allrussischen Anwaltskongresses eingeflossen sind.

Die Gemeinschaft der Anwält*innen, die sich für die Reform der Anwaltschaft einsetzte, wurde die »Advocates Street« (Anwaltsstraße) genannt. Mit Unterstützung von Anwält*innen wurde »Advocates Street« ein unabhängiges journalistisches Projekt, das über Entwicklungen innerhalb der Anwaltschaft berichtet, eine umfassende Diskussion kontroverser Anwaltsthemen anstößt, interessante Vertreter*innen der Anwaltschaft vorstellt und Recherchen zu Problemen der Anwaltschaft durchführt. Dieses Projekt besteht noch immer und veröffentlicht weiterhin brisante Artikel über die Arbeit von Anwälten während des russischen Krieges gegen die Ukraine.

Dass sich die Solidarität unter den Anwält*innen weiterentwickelt, zeigen Fälle aus verschiedenen Jahren, als Anwält*innen und Anwaltsverbände auf rechtswidrige Verfolgung von Anwaltskolleg*innen durch russische Behörden reagiert haben. So wurde beispielsweise Anfang 2007 gegen mich, damals Rechtsanwältin bei der Anwaltskammer der Region Krasnodar, ein Strafverfahren nach Artikel 129 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation (in der Fassung vom 08.12.2003) wegen Verleumdung eingeleitet, weil ich beim russischen Präsidenten Wladimir Putin über Angehörige der Strafverfolgungsbehörden und der Staatsanwaltschaft eine Beschwerde eingereicht hatte.

 

Der Fall der Rechtsanwältin Lyudmila Aleksandrova

Das Strafverfahren war eindeutig rechtswidrig: Das Einreichen von Beschwerden beim Staatschef ist ein verfassungsmäßiges Recht eines russischen Bürgers (Artikel 33 der Russischen Verfassung). Die Anwaltsgemeinschaft, die Föderale Rechtsanwaltskammer Russlands und die Anwaltskammer der Region Krasnodar weigerten sich jedoch, meine Rechte als Rechtsanwältin, die vom Staat rechtswidrig verfolgt wird, zu schützen. Das Gericht befand mich einer Ordnungswidrigkeit für schuldig und verurteilte mich zu einer Geldstrafe von 25.000 Rubel. Die Anwaltskammer der Region Krasnodar entzog mir meinen Anwaltsstatus. Ich habe neun Jahre gebraucht, um die Gerichtsentscheidung aufzuheben, die eindeutig unbegründet war. Ich habe meine Rechte allein verteidigt. Im Jahr 2016 hob das zweitinstanzliche Gericht die Entscheidung auf und erkannte mein Recht auf Rehabilitierung an.

 

Der Fall des Rechtsanwalts Michail M. Benyash

Im Jahr 2018 wurde ein weiterer Anwalt aus Krasnodar, Michail Benyash, der Anwendung von Gewalt gegen Polizeibeamte (Artikel 318 Teil 1 des russischen Strafgesetzbuchs) beschuldigt. Den Ermittlungen zufolge verletzte und biss Michail M. Benyash zwei Polizeibeamte, nachdem er am Tag einer Protestaktion gegen die Anhebung des Rentenalters festgenommen worden war. Der Anwalt wurde in Gewahrsam genommen. Die Version der Staatsanwaltschaft war absurd und wurde durch keinerlei Beweise gestützt. Die russische Anwaltschaft hat auf die Verfolgung von Mikhail Benyash vehement reagiert. Mehr als 300 Anwälte aus 50 Regionen Russlands unterzeichneten einen kollektiven Appell zu seiner Unterstützung, und mehr als 30 Anwälte wurden als Verteidiger in das Strafverfahren einbezogen. In der russischen und ausländischen Presse ist eine große Anzahl von Veröffentlichungen zu diesem Strafverfahren erschienen. Auf Druck der Anwaltschaft ließen die Behörden den Anwalt gegen eine Kaution frei, die von der Anwaltskammer der Region Krasnodar bezahlt wurde.

Die erste Verurteilung gegen M.M. Benyash erfolgte 2019. In Ermangelung von Beweisen und mit starker Unterstützung der juristischen Gemeinschaft und der Medien fiel das Urteil eher milde aus, der Anwalt bekam eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel wegen eines mittelschweren Straftatbestands. Im Jahr 2021 hob ein höheres Gericht das Urteil auf und verwies den Fall zur Neuverhandlung an das erstinstanzliche Gericht zurück. Anwält*innen aus verschiedenen Regionen Russlands verteidigen weiterhin ihren Kollegen in dem Fall.

 

DER SOG. ›ANWALTSSUMPF‹: ›PROBLEMLÖSER‹ UND ›POSTBOTEN‹

Gleichzeitig stellte sich heraus, dass die Unabhängigkeit des Anwaltsberufs und der Schutz der Rechte von Anwält*innen nur von einer kleinen Zahl russischer Anwält*innen – echten Verfechter*innen ihrer Sache – angestrebt wurden. Die Hauptmasse der russischen Anwaltsgemeinschaft bestand in all diesen Jahren aus den typischen Vertreter*innen der russischen Gesellschaft, die die Ansichten der Bevölkerung über die Lage in Russland teilen und das politische Regime im Lande unterstützen. Für sie ist der Status eines Anwalts/ einer Anwältin nur eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, der Schutz der Rechte und Interessen ihrer Mandant*innen ist nicht das Wichtigste in diesem Prozess. Aus diesem so genannten ›Anwaltssumpf‹ entstehen die Organe der Selbstverwaltung der Rechtsanwält*innen. Versammlungen, Konferenzen, gesamtrussische Juristenkongresse ähneln immer mehr den Kongressen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion: Nur die den Funktionären der Anwaltskammern genehmen Juristen werden Delegierte. Sie billigen gehorsam alle Entscheidungen, auch solche, die die Lage der Anwaltschaft verschlechtern. Darüber hinaus gibt es eine ganze Schicht russischer Anwält*innen, die an der Bestechung der Justiz beteiligt sind. Im russischen Gerichtssystem gab es schon immer Anwält*innen, die den Ermittler*innen, Staatsanwält*innen und Richter*innen nahestanden. Unter ihren Kolleg*innen wurden sie ›Problemlöser‹ oder ›Postboten‹ genannt (d.h. diejenigen, die Bestechungsgelder überbringen). Durch ihre Vermittlung werden Strafverfahren bei Ermittlungsbehörden und Gerichten eingeleitet oder eingestellt, Gerichtsentscheidungen im Interesse jener Kund*innen getroffen, die das Ergebnis bezahlt haben.

Ein großer Teil der russischen Anwaltschaft setzt sich aus ehemaligen Polizeibeamten, Staatsanwält*innen und Richter*innen zusammen. Im Laufe der Jahre im öffentlichen Dienst haben sie sich beruflich ›deformiert‹: Statt dem Gesetz zu dienen, sind sie zu eifrigen Hüter*innen des politischen Regimes geworden; die Verletzung der Bürgerrechte ist für sie nichts Ungewöhnliches mehr. Die sogenannten ›Außerdienstler‹ arbeiten nach ihrem Eintritt in die Anwaltschaft weiter im Interesse der Behörden und lösen mit Hilfe von Korruption Probleme in Ermittlungsbehörden und Gerichten. Weder die Anwaltschaft noch die Behörden beschäftigen sich mit dem Problem, denn alle sind mit allem zufrieden.

Der juristische Nihilismus der russischen Gesellschaft und die Willkür der russischen Behörden haben die Anwaltschaft zu einem Attribut der Justiz degradiert, das keinen nennenswerten Einfluss auf die Entscheidungen der Ermittlungsbehörden und Gerichte hat. Die Rolle der Anwält*innen in Strafverfahren wird unter anderem durch die Statistik der Freisprüche belegt: Für den Zeitraum 2013-2021 betrug die Anzahl der Freisprüche 0,3 Prozent der von den russischen Gerichten erlassenen Urteile. In den letzten Jahren haben die russischen Behörden den Druck auf unabhängige Anwält*innen deutlich erhöht. Der Prager Klub der russischen Anwälte stellte seine Tätigkeit ein, und Rechtsanwalt Iwan Pawlow, einer der Gründer des Klubs, war gezwungen, Russland aufgrund strafrechtlicher Verfolgung zu verlassen.

 

ANWALTSCHAFT IM KRIEG

Der gegen die Ukraine entfesselte Krieg hat die Zerstörung der Anwaltschaft in Russland als Menschenrechtsinstitution exponentiell beschleunigt. In den ersten Tagen des Krieges wurde der »Offene Brief russischer Juristen gegen den Krieg in der Ukraine« von etwas mehr als 4.700 Anwält*innen, Notar*innen und Dozent*innen der Rechtswissenschaften unterzeichnet. Gleichzeitig lag die Zahl der aktiven russischen Anwält*innen laut Statistik der Föderalen Rechtsanwaltskammer der Russischen Föderation Anfang 2022 bei 75.504. Die Schlussfolgerung liegt nahe: Die Mehrheit der russischen Rechtsanwält*innen hat entweder Russlands Angriff auf die Ukraine unterstützt oder wollte sich nicht einmischen und so tun, als sei nichts geschehen.

 

Spaltungslinien…

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat den Rat der Föderalen Rechtsanwaltskammer (FRK) Russlands gespalten. Am 27. Februar erschien auf der offiziellen Website der FRK ein Aufruf gegen Russlands »besondere Militäroperation‹ in der Ukraine. Bereits am nächsten Tag erschien eine Erklärung von anderen Mitgliedern des Rats, dass sich die Organisation »aus der Politik heraushalten« sollte und die Anwält*innen selbst »verpflichtet sind, die legitimen Entscheidungen der Führung des Landes zu befolgen«.

Gleichzeitig erklärte ein Vertreter der russischen Föderalen Rechtsanwaltskammer, dass die Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie die Regionen Saporischschja und Cherson ihre eigenen Anwaltskammern gründen werden. Die »Advocates Street« (Advokatskaya Ulitsa) veröffentlichte Informationen, wonach die FRK bereits im August mit der »Umschulung« von Anwält*innen in den Regionen Cherson und Saporischschja begonnen habe und dabei mit den pro-russischen zivil-militärischen Verwaltungen zusammenarbeite. Funktionär*innen der Anwaltschaft führen die Anweisungen der Behörden gehorsam aus und beteiligen sich an der Verfolgung von Anwält*innen, die die Ukraine unterstützen. So hat die Anwaltskammer des Moskauer Gebiets im September 2022 auf Vorschlag des Justizministeriums ein Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwalt Alexey Baranovsky eingeleitet, der lange Zeit als Journalist in der Ukraine tätig war. Die Mitglieder des Qualifikationsausschusses der Kammer stellten einstimmig fest, dass Baranovskys Tätigkeit einen Verstoß gegen das Rechtsanwaltsgesetz und die Berufsethikordnung für Rechtsanwält*innen darstellt. Die Qualifizierungskommission bemerkte, dass die russische Anwaltschaft »außerhalb der Politik steht, jedoch mit ihrem Land und ihren Bürgern verbunden ist«. Sie bezeichnete die Entscheidung, eine »Sonderoperation« einzuleiten, als »rechtmäßig« – und »unter Einhaltung aller notwendigen verfassungsrechtlich bedeutsamen Verfahren« getroffen.

Viele russische Anwält*innen unterstützen offen die Invasion gegen die Ukraine und helfen den Behörden bei der Begehung von Verbrechen auf ukrainischem Gebiet.

So nahmen im Frühjahr zwei russische Anwälte an den Ermittlungen in der so genannten Volksrepublik Donezk als »Verteidiger« gefangener Soldaten der ukrainischen Streitkräfte teil – zwei britische Staatsbürger und ein marokkanischer Staatsangehöriger, die später zum Tode verurteilt wurden. Die Namen dieser Anwälte sind bekannt, ich möchte sie nicht nennen, um keine Werbung für sie zu machen. In einem Interview mit »Advocates Street« sagten sie, sie seien Reserveoffiziere und hätten sich freiwillig zur Volksrepublik Donezk begeben. Zu diesem Zweck setzten sich die Anwälte unabhängig voneinander mit dem russischen Untersuchungskomitee in Verbindung und boten ihre Unterstützung als Pflichtverteidiger gemäß Artikel 51 Absatz 3 der Strafprozessordnung der Russischen Föderation an. Dabei unterstützen sie ganz offen das Vorgehen der russischen Behörden in der Ukraine.

Es sind auch Anwälte bekannt geworden, die sich freiwillig an der Front gemeldet haben. Die meisten von ihnen sind Strafverfolger im Ruhestand. So setzte beispielsweise ein Rechtsanwalt aus Kasan seine Zulassung aus, um sich vertraglich zum Militärdienst zu verpflichten. Er erzählt Journalist*innen ganz offen, dass er an der »besonderen Militäroperation« teilnimmt, um seinem Heimatland wieder zu dienen.

 

Strafgesetzbuch-Novellierung zum Krieg daheim

Nach der Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für öffentliche Handlungen, die darauf abzielen, den Einsatz der russischen Streitkräfte zu diskreditieren (Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches), und für die öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen, die Daten unter dem Deckmantel zuverlässiger Berichte über den Einsatz der russischen Streitkräfte enthalten (Artikel 280.3 des Strafgesetzbuches), während der so genannten »besonderen Militäroperation in der Ukraine«, wurde eine unabhängige Anwaltschaft in Russland unmöglich. Jede Aussage oder Veröffentlichung in den Medien oder sozialen Netzwerken über das Vorgehen der russischen Behörden und der russischen Armee in der Ukraine, die im Widerspruch zu den offiziellen steht, wurde zu einer Straftat umqualifiziert. Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind in doppelter Hinsicht gefährdet: zum einen durch die eigene Position, mit der sie den Krieg Russlands in der Ukraine verurteilen, und zum anderen durch die Verteidigung derjenigen, die aufgrund der neuen Straftatbestände strafrechtlich verfolgt werden.

Der erste russische Anwalt, gegen den im Juni dieses Jahres ein Strafverfahren gemäß Artikel 207.3 des russischen Strafgesetzbuches eingeleitet wurde, war Dmitry Talantov, Präsident der Anwaltskammer von Udmurtien. Für seinen Facebook-Post über die Aktionen des russischen Militärs in den ukrainischen Städten Charkiw, Mariupol, Irpen und Bucha drohen dem Anwalt fünf bis zehn Jahre Gefängnis. Er wurde in Gewahrsam genommen. Dmitriy Talantov wird von einer Gruppe russischer Anwält*innen verteidigt. Die Strafverfolgung des russischen Anwalts hat in der internationalen Rechtsgemeinschaft und in den internationalen Medien ein großes Echo ausgelöst. Die International Bar Association (IBA) hat dazu aufgerufen, die strafrechtliche Verfolgung des Anwalts Dmitry Talantov einzustellen. Es gab jedoch keine Massenreaktion zur Verteidigung des Kollegen seitens der russischen Anwaltschaft.

 

Angriffe mit dem Strafgesetzbuch

Während der so genannten »Teilmobilisierung« zeigten die russischen Behörden offen die ungleiche Stellung von Anwält*innen im Vergleich zu anderen Verfahrensbeteiligten. So erklärte beispielsweise der Generalstab des russischen Verteidigungsministeriums, dass Mitglieder des Ermittlungskomitees, der Staatsanwaltschaft sowie ›Gerichtsbedienstete‹ nicht mobilisierungspflichtig sind, wogegen sich die Befreiung von der Mobilisierung nicht auf die Rechtsanwält*innen erstreckt.

Nach der Verkündung der so genannten »Teilmobilisierung« begannen Vertreter*innen des russischen Verteidigungsministeriums, Druck auf die Anwaltschaft auszuüben. So berichteten russische Medien im September, dass der Militärkommissar von Moskau einen Brief an den Präsidenten der Moskauer Anwaltskammer geschickt hatte, der eine ausdrückliche Drohung an die Rechtsanwält*innen enthielt, die den Bürger*innen Rechtsbeistand bei der Verteidigung gegen die Mobilisierung leisten. Einen Monat später griff ein Militärkommissar in einem Moskauer Stadtviertel einen Anwalt tätlich an, der versucht hatte, Unterlagen über das Recht seines Mandanten auf Aufschub der Mobilisierung einzureichen.

Die russische Anwaltschaft reagierte auf die »Teilmobilisierung« auf unterschiedliche Weise: Einige verließen umgehend das Land, andere zogen gehorsam in den Kampf.1 Anfang Oktober traten prominente russische Rechtsanwälte – Vadim Kluvgant, Vizepräsident der FRK, Henry Reznik und Konstantin Dobrynin, ehemaliger Staatssekretär der Kammer – freiwillig aus der Föderalen Rechtsanwaltskammer aus. Sie waren es, die im Februar 2022 den Aufruf zur »baldigen Einstellung der Kampfhandlungen« auf der Website der FRK (wie oben erwähnt) unterzeichneten.

 

LIQUIDIERUNG DER ANWALTSCHAFT ALS MENSCHENRECHTSINSTITUTION

In der gegenwärtigen Situation, in der die Mehrheit der russischen Bevölkerung die Politik von Präsident Putin, der einen ungeheuerlichen, schändlichen Krieg gegen einen Nachbarstaat entfesselt hat, und die Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine unterstützt, kann die Anwaltschaft nicht als Menschenrechtsinstitution funktionieren. In einem Land, das das wichtigste Recht – das Recht auf Leben – gegenüber dem ukrainischen Volk und der eigenen Bevölkerung verletzt hat, gibt es und kann es keine Gerechtigkeit geben.

Die wenigen in Russland verbliebenen unabhängigen Anwält*innen erfüllen ihre berufliche Pflicht als Menschenrechtsverteidiger*innen und riskieren dabei ihre Freiheit und sogar ihr Leben und das ihrer Familien. Indem sie den Demonstrierenden gegen den Krieg in der Ukraine juristischen Beistand leisten und die Menschen vor der Mobilisierung unter völliger Willkür und Gesetzeslosigkeit verteidigen, erwecken sie mit ihrem Engagement Respekt und sogar Bewunderung. Gleichzeitig verzichtet die überwältigende Mehrheit der russischen Anwält*innen freiwillig und bewusst auf den Status des ›Verteidigers der Rechte‹, der Freiheiten und der universellen menschlichen Werte. Heute ist der Begriff ›Anwalt‹ im Lande selbst diskreditiert, und die Liquidierung der russischen Anwaltschaft als Menschenrechtsinstitution ist so gut wie abgeschlossen.

 

Lyudmila Aleksandrova war Rechtsanwältin in Russland und lebt heute in Deutschland. Der Beitrag ist im Informationsbrief des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV), Ausgabe Dezember 2022, erschienen. Unter- und Zwischenüberschriften wurden von der RAV-Redaktion eingefügt.

 

 

1 Vgl. https://t.me/astrapress/13924.

Kammerton 01/02-2023