Entscheidungen in rechtsstaatswidrigen CHD-Verfahren

Von Bilinç Isparta, Vizepräsident und Menschenrechtsbeauftragter der RAK Berlin

 

Nach über 6 ½ Jahren Verfahrensdauer findet das gegen die türkischen Kolleginnen und Kollegen rund um den Vorsitzenden des Progressiven Anwaltsvereins (CHD) und Hans-Litten-Menschenrechtspreisträgers Selcuk Kozaagacli seinen vorläufigen Abschluss. Den Kolleginnen wird Mitgliedschaft und die Führung der DHKP-C, der revolutionären Volksbefreiungspartei-Front, vorgeworfen, die auch in Deutschland seit 1998 zu den verbotenen Organisationen zählt.

Rechtsanwalt Bilinç Isparta

Die Verhandlung aus Januar 2022 gab den Beobachtern des Prozesses wie auch den türkischen Kolleginnen und Kollegen Grund zu der Annahme, dass ein Umdenken auf Seiten des Gerichts stattgefunden hat. Es bestand zumindest die vage Hoffnung, dass mit dem jetzigen Richter ein Stück weit Rechtsstaatlichkeit zurückkehrt.

Die Anklage gegen die Kolleginnen und Kollegen stützt sich einerseits auf digitale Beweismittel in Form von mehrere CD`s und DVD`s, die durch belgische und holländische Ermittlungsbehörden im Rahmen von Ermittlungen gegen die DHKP-C gewonnen und den türkischen Ermittlungsbehörden übergeben worden sein sollen. Die Dateien wurden bisher der Verteidigung trotz unzähliger Anträge nicht vorgelegt. Von Seiten des Gerichts hieß es stets, dass die Dateien nicht auffindbar seien und die Auszüge und die Auswertungsberichte die Anklage hinreichend stütze. Bis eben zum 05.01.2022. Das Gericht eröffnete seinerzeit das Verfahren und wies nicht ohne sichtliche Erleichterung darauf hin, dass es sie gefunden habe. Mehrmals wiederholte der Vorsitzende: „Wir haben sie, wir haben sie“ und meinte die digitalen Dateien aus Holland und Belgien. Das Verfahren wurde ausgesetzt, die Untersuchung und Auswertung der Dateien angeordnet und der Verteidigung zur Verfügung gestellt. Es sollte ermittelt werden, ob die in Papierform vorliegenden Ausdrucke und die Auswertungsberichte mit den Verweisen auf die auf den Datenträgern angeblichen vorhandenen Dateien identisch sind, sich also auf den belgischen und holländischen Datenträgern wiederfinden.

Nachdem die Auswertung erfolgte, wurden die Termine vom 07.11.2022 – 17.11.2022 anberaumt, an deren Ende der Abschluss des Verfahrens stehen sollte.

Erstmals erhielten die Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit zu den erhobenen Vorwürfen und den vermeintlichen Beweismitteln Stellung zu nehmen. Das Gericht hat im Vorfeld darauf hingewiesen, dass die Auswertung der digitalen Beweismittel eine Übereinstimmung ergeben habe und sich kein Anzeichen für eine Fälschung ergeben hätten.

Die Verteidigung weist darauf hin, dass der Auswertungsbericht des staatlichen Rechtsmedizin, die auch technische Auswertungen vornimmt, sich nicht auf den Inhalt der Datenträger bezieht, sondern lediglich dazu Stellung nimmt, dass die Datenträger Originale sind und nicht verfälscht worden seien. Indes fehlen Angaben, ob sich auf den Datenträgern die behaupteten belastenden Unterlagen befinden, ob diese Unterlagen mit den Ausrucken übereinstimmen und auch nicht, ob es sich bei den Datenträgern tatsächlich aus um solche aus Holland und Belgien handele.

Die Verteidigung hat ihrerseits die Datenträger ausgewertet und geht bei der Auswertung auf die lückenhafte Beweisführung des Gerichts intensiv ein. So sei es überraschend, dass die Datenträger in Wirklichkeit kein einziges Dokument enthielten, auf das sich die 600-seitige Anklageschrift als Beweismittel berufe, keines der nummerierten Dokumente befinde sich auf den Datenträgern. Lediglich ein Datenträger enthalte Dokumente. Diese CD sei jedoch, so auch der Bericht der gerichtlichen Auswertung, nicht aus Holland oder Belgien, sondern in der Türkei hergestellt worden und könne damit nicht die im Zuge von Razzien in Holland und Belgien aufgefundenen Dokumente enthalten. Die Verteidigung stellt die Frage, wie die Datenträger in die Türkei gekommen seien. Noch vor Anklageerhebung habe der für Terrordelikte zuständige leitende Staatsanwalt über 2 Jahre hinweg mehrfach bei den holländischen und belgischen Behörden im Wege der Amtshilfe die Übersendung der Datenträger und der Beweismittel aus den Razzien gegen die dortige DHKP-C beantragt, jedoch keine Rückmeldung erhalten. Zumindest finde sich weder in der Akte noch in anderen Parallelverfahren, bei denen die Datenträger als Beweismittel angeführt wurden derartige Hinweise. Jedoch befinde sich in der Akte ein Telefonvermerk eines leitenden Polizeibeamten in dem es heißt, dass er mit den ausländischen Behörden telefoniert hätte und die Zusage erhalten habe, dass sich die Datenträger bereits bei einem Kollegen aus der Abteilung der Terrorbekämpfung befinde. Eine telefonische Anfrage bei dem Kollegen habe dies bestätigt und die Akten seien ihm zugesandt worden.

Wer die bei internationaler Amtshilfe üblichen Übermittlungswege, Aufnahmeprotokolle, Asservatennummerierungen und die Einhaltung der Formalitäten etc. erwartet, sucht vergeblich. Keiner dieser öffentlichen Übermittlungswege und Formalitäten ist eingehalten worden, kein einziger Hinweis auf die Herkunft der Datenträger und ihren Weg in die Türkei lasse sich finden, bis auf den Telefonvermerk. Dass der Verfasser des Vermerks zu dem Kreis der Beamten zählt, die wegen Fälschung von Beweisen, Urkundenfälschung und Mitgliedschaft in der Gülen Bewegung, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird, reiht sich in die Unfassbarkeiten dieses Verfahrens nahtlos ein. So wundert es nicht, dass der Polizeibeamte in seinem Vermerk vier Harddisks, drei  DVDs und 1 CD aufführt, sich aber auf wundersame Weise bei den Beweismitteln 4 Harddisks, 3 DVDs und 2 CDs befinden, eine CD mehr als angeblich aus Holland und Belgien eingetroffen; jene eine Disk mehr, die auch nach dem Bericht des gerichtlichen Gutachtens nicht aus Holland oder Belgien stammt, sondern in der Türkei hergestellt wurde.

Die Anklage stützt sich auf die Informationen auf den Datenträgern und auf 23 Zeugenaussagen. Man würde meinen, dass in Anbetracht der Ausführungen der Verteidigung, gegenüber den präsentierten Beweisen Zweifel entstehen und das Gericht die Datenträger und die darauf befindlichen Dokumente präsentiert, jedoch bleibt Derartiges aus. Man denkt zwangsläufig, dass das Gericht oder die Staatsanwaltschaft zumindest die Zeugen anhören wird. Auch dem ist nicht so. Kein einziger Zeuge macht Angaben in dem Verfahren, wurde weder befragt, noch angehört. Lediglich die angeblichen Vernehmungsprotokolle finden ihren Weg in das Verfahren. Protokolle von Vernehmungsbeamten der Polizei und der Staatsanwaltschaft. Eben von jenen Beamten, die ihrerseits teils wegen Mitgliedschaft in der Fetullah Gülen Bewegung aber sämtlich wegen Anfertigen von falschen Beweismitteln, Urkundenfälschung und deren Verwendung sowie wegen Amtsmissbrauchs zu Haftstrafen verurteilt wurden und teils bereits aus der Haft auch wegen ihrer Geständnisse Haftverkürzungen erhielten und entlassen wurde.

Je mehr Einzelheiten über das Verfahren bekannt werden, desto deutlicher tritt die klare politische Prägung des Verfahrens und der unbedingte Wille hervor, um jeden Preis die Kolleginnen zum Schweigen zu bringen. Ein Verfahren, bei dem das Bild der Rechtstaatlichkeit und eines geordneten Verfahrens gezeichnet wird, tatsächlich jedoch die Abhängigkeit des Gerichts und die Willkür auf beschämende Weise aufzeigt.

So erhalten am letzten Tag die Angeklagten das letzte Wort. Die Zuschauer und die Anwälte schicken sich an aufzustehen, damit sich die Kammer zurückziehen kann. Ein Aufruf des Gerichts, alle setzen sich. Auch das Gericht will und kann den Schein zum Schluss nicht mehr aufrechterhalten. Der Vorsitzende greift zu dem Blatt auf dem Tisch und verliest die fertige Entscheidung.

 

1- Selçuk Kozağaçlı

a) Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuchs) : 8 Jahre

b) Die Strafe wurde um die Hälfte erhöht, da es sich um eine terroristische Straftat handelt: 12 Jahre.

c) Es wurde beschlossen, die im Gesetz aufgeführten Strafmilderungsbestimmungen nicht anzuwenden, da er keine Reue gezeigt habe.

d) Propaganda (Anti-Terror-Gesetz, Artikel 7/2): Zusätzlich 1 Jahr.

e) Insgesamt: 13 Jahre

 

2- Barkın Timtik

a) Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuchs) : 8 Jahre

b) Die Strafe wurde um die Hälfte erhöht, da es sich um eine terroristische Straftat handelt: 12 Jahre.

c) Es wurde beschlossen, die im Gesetz aufgeführten Strafmilderungsbestimmungen nicht anzuwenden, da er keine Reue gezeigt habe.

d) Propaganda durch 6 verschiedene Straftaten (Antiterrorgesetz, Artikel 7/2): Zusätzlich 1 Jahr x 6 Taten = 6 Jahre.

e) Propaganda (aus einem anderen Fall, der mit diesem zusammengelegt wurde) (Anti-Terror-Gesetz, Artikel 7/2), zusätzlich 1 Jahr.

f) Widerstand gegen die Ausübung einer Pflicht (Türkisches Strafgesetzbuch, Artikel 265/1): zusätzlich 1 Jahr

g) Teilnahme an einer illegalen Demonstration (Gesetz Nr. 2911, Artikel 32/1), 6 Monate

h) Insgesamt: 20 Jahre und 6 Monate

 

3- Oya Aslan:

a) Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuchs) : 7 Jahre

b) Die Strafe wurde um die Hälfte erhöht, da es sich um eine terroristische Straftat handelt: 10 Jahre 6 Monate

c) Es wurde beschlossen, die im Gesetz aufgeführten Strafmilderungsbestimmungen nicht anzuwenden, da er keine Reue gezeigt habe.

d) Propaganda durch 6 verschiedene Straftaten (Antiterrorgesetz, Artikel 7/2): Zusätzlich 1 Jahr x 6 Taten = 6 Jahre.

e) Insgesamt: 16 Jahre und 6 Monate

 

4- Taylan Tanay:

a) Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuchs): 5 Jahre

b) Die Strafe wurde um die Hälfte erhöht, da es sich um eine terroristische Straftat handelte: 7 Jahre 6 Monate

c) und eine Strafminderung aufgrund seines Verhaltens während des Prozesses: So: 6 Jahre 3 Monate

d) Propaganda durch 5 verschiedene Straftaten (Antiterrorgesetz, Artikel 7/2): Zusätzlich 1 Jahr, aber eine Reduzierung wurde aufgrund seines Verhaltens in der Verhandlung vorgenommen, also 10 Monate x 5 Taten = 50 Monate, 4 Jahre 2 Monate

e) In Anbetracht des Status des Angeklagten, seiner mangelnden Vorstrafen usw. wurde beschlossen, die Verkündung des Propaganda-Urteils aufzuschieben, und der Kollege wurde zu einer Bewährungsstrafe von 5 Jahren verurteilt.

f) Widerstand gegen die Staatsgewalt, türkisches Strafgesetzbuch 265/1: zusätzlich 1 Jahr, mit der Ermäßigung von 10 Monaten (und erneuter Aufschub der Verkündung des Urteils für dieses Verbrechen)

g) Insgesamt: 11 Jahre und 3 Monate

 

5- : Nazan Betül Vangölü Kozağaçlı

a) Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuches) : 5 Jahre

b) Die Strafe wurde um die Hälfte erhöht, da es sich um eine terroristische Straftat handelte: 7 Jahre 6 Monate

c) und eine Strafminderung aufgrund seines Verhaltens während des Prozesses: So: 6 Jahre 3 Monate

d) Propaganda durch 2 verschiedene Straftaten (Antiterrorgesetz, Artikel 7/2): Zusätzlich 1 Jahr, aber es wurde eine Reduzierung aufgrund seines Verhaltens in der Verhandlung vorgenommen, also 10 Monate x 2 Taten = 20 Monate, 1 Jahr 8 Monate

e) In Anbetracht des Status des Angeklagten, seiner mangelnden Vorstrafen usw. wurde beschlossen, die Verkündung des Propaganda-Urteils aufzuschieben, und der Kollege wurde zu einer Bewährungszeit von 5 Jahren verurteilt.

f) Insgesamt: 7 Jahre und 11 Monate

 

6- : Avni Güçlü Sevimli und Gülvin Aydın

a) Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuchs) : 5 Jahre

b) Die Strafe wurde um die Hälfte erhöht, da es sich um eine terroristische Straftat handelte: 7 Jahre und 6 Monate

c) und eine Strafminderung wurde aufgrund seines Verhaltens während des Prozesses vorgenommen: So: 6 Jahre 3 Monate

d) Ausübung von Propaganda (Anti-Terror-Gesetz, Artikel 7/2): Zusätzlich 1 Jahr, aber eine Reduzierung wurde aufgrund seines Verhaltens in der Verhandlung angewandt, also 10 Monate.

e) In Anbetracht des Status des Angeklagten, seiner mangelnden Vorstrafen usw. wurde beschlossen, die Verkündung des Propaganda-Urteils aufzuschieben, und der Kollege wurde zu einer Bewährungszeit von 5 Jahren verurteilt.

f) Insgesamt: 7 Jahre und 1 Monat

 

7- Güray Dağ, Efkan Bolaç, Serhan Arıkanoğlu, Mümin Özgür Gider, Metin Narin, Sevgi Sönmez, Alper Tunga Saral, Rahim Yılmaz, Selda Yılmaz

a) Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (Artikel 314/2 des türkischen Strafgesetzbuchs) : 5 Jahre

b) Die Strafe wurde aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine terroristische Straftat handelt, um die Hälfte erhöht: 7 Jahre und 6 Monate

c) und eine Strafminderung wurde aufgrund seines Verhaltens während des Prozesses vorgenommen: So: 6 Jahre 3 Monate

d) Insgesamt: 6 Jahre 3 Monate

 

8- Naciye Demir (es sei daran erinnert, dass sie bereits im Jahr 2017 wegen der Mitgliedschaft verurteilt wurde – dieses Gericht konnte sie also nicht wegen desselben Verbrechens verurteilen, da sie bereits verurteilt war)

a) Herstellung von Propaganda (Anti-Terror-Gesetz, Artikel 7/2): 1 Jahr für 5 verschiedene Taten, aber eine Reduzierung wurde aufgrund ihres Verhaltens in der Verhandlung vorgenommen, also 10 Monate x 5 Taten = 50 Monate, 4 Jahre 2 Monate.

b) In Anbetracht des Status der Angeklagten, ihres fehlenden Strafregisters usw. wurde beschlossen, die Verkündung des Propaganda-Urteils aufzuschieben, und die Kollegin wurde zu einer Bewährungszeit von 5 Jahren verurteilt.

c) Insgesamt: 4 Jahre und 2 Monate

 

9- Özgür Yılmaz (es sei daran erinnert, dass er bereits im Jahr 2017 wegen der Mitgliedschaft in der Organisation verurteilt wurde – das Gericht konnte ihn also nicht wegen desselben Delikts verurteilen, da sie bereits verurteilt war)

a) Ausübung von Propaganda (Anti-Terror-Gesetz, Artikel 7/2): 1 Jahr und keine Herabsetzung.

b) Insgesamt: 1 Jahr

 

10- Şükriye Erden (es sei daran erinnert, dass sie bereits im Jahr 2017 wegen der Mitgliedschaft in der Organisation verurteilt wurde – das Gericht konnte sie also nicht wegen desselben Verbrechens verurteilen, da sie bereits verurteilt war)

a) Ausübung von Propaganda (Anti-Terror-Gesetz, Artikel 7/2): 1 Jahr für 4 verschiedene Taten, aber eine Reduzierung wurde aufgrund ihres Verhaltens in der Verhandlung vorgenommen, also 10 Monate x 4 Taten = 40 Monate, 3 Jahre 4 Monate.

b) In Anbetracht des Status des Angeklagten, seiner mangelnden Vorstrafen usw. wurde beschlossen, die Verkündung des Propaganda-Urteils aufzuschieben, und der Kollege wurde zu einer Bewährungszeit von 5 Jahren verurteilt.

c) Insgesamt: 3 Jahre und 4 Monate

 

11- Ebru Timtik: Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt.

12- Günay Dağ und Zekir Rüzgar: Ihre Fälle wurden getrennt, da sie nie vor Gericht gestellt wurden.

Kammerton 01/02-2023