Die Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung zur HOAI auf das anwaltliche Gebührenrecht

Kay-Thomas Pohl war von 1999 bis 2004 Präsident der Rechtsanwaltskammer Berlin, von 2005 – 2009 Leiter der deutschen Delegation beim Rat europäischer Anwaltschaften CCBE und anschließend sechs Jahre lang Vorsitzender des „Free Movement of Lawyers‘ Committee“ beim CCBE.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in dem von der EU-Kommission seit 2015 betriebenen Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland (Rechtssache C-377/17 ) mit Urteil vom 04.07.2019 entschieden, dass die verbindlichen Mindest- und Höchstgebühren für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren nach der HOAI (Honorarordnung für Architekten und Ingenieure) gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstoßen.

Fragen an RA, Notar a.D. Kay-Thomas Pohl, den Vorsitzenden des Europaausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, zum EuGH-Urteil und zu den Auswirkungen auf das anwaltliche Gebührenrecht:

Kammerton: Das Urteil des EuGH liest sich zunächst so, als ob Deutschland mit den Argumenten für die Mindestsätze nach der HOAI das Gericht überzeugen könne und das Gericht nicht der Begründung des Generalanwalts folge. Der EuGH entscheidet dann aber anders. Warum?

RA Pohl: Der EuGH – in deutlichem Gegensatz zu den Ausführungen des Generalanwaltes – akzeptiert die Darlegung der Bundesrepublik Deutschland, dass Mindestsätze für die Planungsleistungen grundsätzlich dazu beitragen können, eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu gewährleisten. Da in dem Rechtsstreit offenbar unstreitig war, dass in Deutschland Planungsleistungen nicht nur von Architekten und Ingenieuren, sondern auch von Dienstleistern erbracht werden können, die keine entsprechende fachliche Eignung nachgewiesen haben, lässt sich mit den Mindestgebühren für Architekten und Ingenieure das Ziel, eine hohe Qualität von Planungsleistungen zu erhalten, nicht erreichen.
Fragen der Bauvorlageberechtigung scheinen in dem Vortrag der Europäischen Kommission und der Bundesrepublik Deutschland keine Rolle gespielt zu haben.

Würde der EuGH die nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz für die gerichtliche Vertretung vorgeschriebenen Mindestgebühren akzeptieren, da die von ihm verlangte Kohärenz durch die Regelungen zur Postulationsfähigkeit im anwaltlichen Berufsrecht vorliegt?

Ich denke, dass der EuGH die nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz für die gerichtliche Vertretung vorgeschriebenen Mindestgebühren akzeptieren wird. Er hatte sich vor vielen Jahren schon einmal mit den deutschen Rechtsanwaltsgebühren befasst. Er hat im Jahr 2003 in der Rechtssache Amok – C 289/02 – im Zusammenhang mit dem Kostenerstattungsrecht festgestellt, dass in Deutschland die Kosten des bei einem Gericht zugelassenen Rechtsanwalts völlig vorhersehbar sind.

Der EuGH würde davon ausgehen, dass die Mindestgebühren des RVG eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellen, weil ein Preiswettbewerb um Prozessführungsmandate zu niedrigeren Gebühren dadurch ausgeschlossen ist. Eine solche Beschränkung kann durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, z.B. die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege oder die Gewährleistung hoher Qualität der Rechtsdienstleistungen, gerechtfertigt sein. Nach der bisherigen Rechtsprechung des EuGH, auf die er auch in der HOAI-Entscheidung Bezug nimmt, ist zu erwarten, dass der EuGH auch in Zukunft dabei bleibt, dass Mindestgebühren grundsätzlich dazu beitragen können, eine hohe Qualität von Rechtsdienstleistungen, gerade auch im Rahmen der Prozessführung, zu gewährleisten.

Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass die Kommission wegen des RVG ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland plant. Käme es gleichwohl zu einem solchen Vertragsverletzungsverfahren, würde die Kohärenz der deutschen Regelungen – einerseits Vorbehaltsaufgaben der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und andererseits Rechtsdienstleistungsgesetz – von der Kommission und möglicherweise auch von den Generalanwälten thematisiert. Dass und warum Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, insbesondere im finanzgerichtlichen Verfahren und beispielsweise Gewerkschaften im arbeitsgerichtlichen Verfahren als Prozessbevollmächtigte auftreten dürfen, müsste dann aber im Hinblick auf die Qualifikation der in Rede stehenden Prozessvertreter auch nachvollziehbar dargelegt werden.

Ich bin guten Mutes, dass das gelingt, zumal nach dem Unionsrecht die Mitgliedstaaten ja auch gehalten sind, weniger einschneidende Regelungen zu wählen, wenn dadurch das beabsichtigte Ziel (Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, Qualität der Rechtsdienstleistungen, Erleichterung des Zuganges zum Recht) erreicht werden kann, beispielsweise in Fällen, in denen die Vorbehaltsaufgaben den Rechtsanwälten nicht ausschließlich zugewiesen sind, sondern sie Teile der Vorbehaltsaufgaben mit anderen, für bestimmte Rechtsgebiete qualifizierten Rechtsdienstleistern teilen.

Die verbindlichen Höchstsätze nach der HOAI hat der EuGH als nicht verhältnismäßig gegenüber bloßen Preisorientierungen für Verbraucher angesehen. Entsprechende Höchstsätze enthält das RVG nicht. Könnte das EuGH-Urteil dennoch Auswirkungen auf das anwaltliche Gebührenrecht haben?

Ein Problem mit Höchstsätzen haben wir tatsächlich nicht. Die Regelungen des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes zu den gesetzlichen Gebühren können gleichzeitig auch als Preisorientierung für Verbraucher dienen.

Auswirkungen könnte das Urteil auf das anwaltliche Gebührenrecht insoweit haben, als die übrigen Verfahrensbeteiligten, im Falle eines Vertragsverletzungsverfahrens also die Kommission als Klägerin und der jeweils zuständige Generalanwalt sich ermuntert fühlen dürften, die Frage der Kohärenz der deutschen Vorschriften im Hinblick auf die Berechtigung zur Vertretung von Parteien vor Gericht zu prüfen.

In der Rechtssache X – Steuerberatungsgesellschaft – C -342/14 – hatte Generalanwalt Cruz Villalón in den Randnummern 76 – 79 gemeint, angesichts der in § 4 des Steuerberatungsgesetzes geregelten Befugnis zu beschränkter Hilfeleistung in Steuersachen könne die deutsche Regierung schwerlich behaupten, durch die Anforderungen an die Berufsqualifikation der für die Leitung von Steuerberatungsgesellschaften Verantwortlichen die Empfänger geschäftsmäßiger Hilfeleistungen in Steuersachen in systematischer und kohärenterweise zu schützen.

Der EuGH ist auf diese Argumentation nicht eingegangen. Die Europäische Kommission hat aber diese Argumentation des Generalanwaltes bereits aufgegriffen und ich würde erwarten, dass dann, wenn es überhaupt zu einem Vertragsverletzungsverfahren im Hinblick auf das RVG kommen sollte, man versuchen würde, in den Regelungen des Rechtsdienstleistungsgesetzes Argumente gegen die Kohärenz der anwaltlichen Vorbehaltsaufgaben zu finden.

Wie beurteilen Sie das Urteil des EuGH?

Durchweg positiv. Der EuGH widerspricht in wichtigen Punkten den Rechtsauffassungen des Generalanwaltes. Während Generalanwalt Szpunar meint, der Unionsgesetzgeber verfolge mit Art. 15 Abs. 2 lit. g der allgemeinen Dienstleistungsrichtlinie das konkrete Ziel, in Regelungen der Mitgliedstaaten festgesetzte Mindest- und Höchstpreise abzuschaffen (Rdnr. 49), liest sich dies im Urteil des Gerichtshofes gänzlich anders. Der EuGH hält in Rdnr. 61 fest, „dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, Anforderungen der in Artikel 15 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Art beizubehalten oder gegebenenfalls einzuführen, sofern diese Anforderungen den Bedingungen nach deren Abs. 3 entsprechen“.

Der EuGH tritt dem Generalanwalt auch insoweit entgegen, als er klarstellt, dass es nicht Sache eines Mitgliedstaates sei, nachzuweisen, dass die Abschaffung von Mindestpreisen zu einer Minderung der Dienstleistungsqualität führen würde. Auch der EuGH spricht von Beweislast, meint damit aber lediglich, dass der Mitgliedsstaat darzutun hat, dass seine Regelung zur Erreichung des angestrebten legitimen Ziels geeignet und erforderlich ist. Ein Beweiserfordernis im engeren Sinne liefe darauf hinaus, dem betroffenen Mitgliedsstaat seine Regelungsbefugnis zu entziehen (Rdnr. 64, 85).

Der EuGH tritt damit auch einer Verschiebung der Regulierungszuständigkeit von den Mitgliedstatten auf die Union entgegen. Das wird auch bei der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2018/958 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 28. Juni 2018 über eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen wegweisend sein.

 

Kammerton 08-2019