Nach dem EuGH-Urteil vom 12.01.2023: Transparenzgebot bei Zeitaufwandsklausel
Thesen der Gebührenreferentinnen und -referenten der Rechtsanwaltskammern
Die Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten haben sich bei ihrer 84. Tagung am 06.04.2024 in Stuttgart erneut mit dem Urteil des EuGH vom 12.01.2023 (Rechtssache C-395/21; BRAK-Mitt. 2023, 173 mit Anm. Kunze) zum Transparenzgebot bei einer Zeitaufwandsklausel befasst.
Hintergrund sind die aktuellen und problematischen Entwicklungen in der Praxis, da einige Rechtsschutzversicherungen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Regress nehmen mit der Begründung, die geschlossenen Vergütungsvereinbarungen seien wegen des genannten EuGH-Urteils unwirksam.
Deshalb haben die Gebührenreferentinnen und Gebührenreferenten folgende Thesen zum aktuellen Stand der Entwicklungen und der nationalen Rechtsprechung in Bezug auf das Urteil des EuGH vom 12.01.2023 – C-395/21 beschlossen:
- Der Verbraucher muss in die Lage versetzt werden, die sich für ihn aus der Stundenlohnvereinbarung ergebenden wirtschaftlichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien einzuschätzen (EuGH, Rn. 37). Dies kann durch eine Schätzung der erforderlichen Stunden oder die Verpflichtung, in angemessenen Zeitabständen abzurechnen, erreicht werden (EuGH, Rn. 44). Die vom EuGH eben genannten Möglichkeiten sind aber nicht abschließend zu verstehen, Transparenz kann auch auf andere Weise geschaffen werden (OLG Köln, Urteil v. 12.04.2023,11 U 218/19, Rn. 49).
- Allerdings ist es für den Rechtsanwalt „schwer, wenn nicht sogar unmöglich, bei Vertragsschluss vorherzusehen, wie viele Stunden genau erforderlich sind" (EuGH, Rn. 41). Deshalb muss der Verbraucher jedenfalls in die Lage versetzt werden, die „Größenordnung" der Kosten einzuschätzen, etwa durch eine Schätzung der mindestens erforderlichen Stunden (EuGH, Rn. 44). Für die Festlegung des Mindestaufwands reicht es auch aus, wenn mindestens die gesetzliche Vergütung nach dem RVG als Untergrenze des Aufwandes vereinbart wird (OLG Köln, a. a. O., Rn. 49).
- Ist eine Klausel wegen fehlender Angaben zum voraussichtlichen Aufwand nicht transparent, ist sie in Deutschland allein deshalb jedoch nicht unwirksam. Denn eine Klausel ist grundsätzlich nicht allein deshalb missbräuchlich und damit nichtig, wenn sie dem Transparenzerfordernis (Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 93/13/EWG) nicht entspricht (EuGH, Rn. 49, Urteilstenor 3). Eine Nichtigkeit allein wegen Intransparenz tritt nur ein, wenn der betreffende Mitgliedstaat ein höheres Schutzniveau als die Richtlinie 93/13 vorsieht. Dies ist für die Regelungen des BGB in Deutschland nicht der Fall (OLG Bamberg, Urteil v. 15.06.2023, 12 U 89/22, Rn. 76).
- Die Wirksamkeit einer intransparenten Klausel ist demgemäß durch eine Gesamtwürdigung aller Umstände des Vertragsschlusses zu prüfen. Hierbei sind auch die Kenntnisse und Fähigkeiten des Vertragspartners zu berücksichtigen (OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 79). Sind auf Verbraucherseite mehrere Beteiligte vorhanden, ist ein besonderes Fachwissen eines Beteiligten den anderen Beteiligten nach dem Rechtsgedanken des § 166 BGB zuzurechnen (OLG Bamberg, a. a. O., Rn. 81). Dies gilt auch für die in der Praxis häufigen Fälle, in denen ein Rechtschutzversicherer bei der Aushandlung der (Stunden-) Gebührenvereinbarung beteiligt war. Hier ist dem Verbraucher das hohe Fachwissen des Rechtschutzversicherers nach dem Rechtsgedanken des § 166 BGB zuzurechnen.
- Ist eine Vereinbarung über Stundenhonorar unter Berücksichtigung aller Umstände unwirksam, kann das Gericht die rechtliche Lage wiederherstellen, in der sich der Verbraucher ohne die Vereinbarung befunden hätte. Es kann allerdings nicht selbst bestimmen, welche Vergütung für die schon erbrachten Dienstleistungen angemessen ist (EuGH, Urteilstenor 4).
- Für Deutschland bedeutet dies, dass das Gericht unter Wiederherstellung der ohne eine Stundenhonorarvereinbarung bestehenden Lage die gesetzlichen Gebührenvorschriften anwenden kann und muss.